REYL Market Insight: Kann die Natur in einer fragmentierten Welt überleben?

Die Fragmentierung der Welt erschwert ein ‘kollektives’ Handeln in globalen Umweltfragen.
Von Jon Duncan, Chief Impact Officer, REYL Intesa SanPaolo
In den USA und der EU nimmt die Unterstützung für grüne Themen ab, während Zölle, Einwanderung, Inflation, Energiesicherheit und Beschäftigung in den Mittelpunkt rücken. Trotzdem wurde auf der der COP16 in Rom zum Thema biologische Vielfalt 200 Mrd. USD für die Natur mobilisiert. Auch wurde eine Einigung auf eine umfassende Reihe von Indikatoren zur Überwachung der biologischen Vielfalt erzielt. Letzteres ist vielleicht noch wichtiger und ebnet den Weg für Finanzinstrumente, die Anreize für Investitionen in die Erhaltung und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt bieten. Richtig eingesetzt, ermöglichen solche Instrumente einen stärkeren Fluss von Finanzkapital zur Verbesserung unserer Bestände an Naturkapital. Dies setzt voraus, dass die Menschheit ihr Verständnis dafür neu kalibriert, wie grundlegend unser Wohlergehen mit dem sicheren Funktionieren der lebenden Systeme der Erde verbunden ist.
Was steht auf dem Spiel?
Der WWF Living Planet Report 2024 berichtet, dass die durchschnittliche Grösse der beobachteten Wildtier-Populationen von 1970 bis 2020 um 73% geschrumpft ist – dies auf der Grundlage von fast 35’000 Populationstrends und 5495 Arten von Amphibien, Vögeln, Fischen, Säugetieren und Reptilien. Am stärksten betroffen sind die Süsswasserpopulationen mit einem Rückgang von 85%, gefolgt von den Landpopulationen mit 69% und den Meerespopulationen mit 56%. Am stärksten ist der Rückgang in Lateinamerika und der Karibik mit 95% im Vergleich zum Ausgangsjahr 1970, gefolgt von Afrika mit 76% und dem asiatisch-pazifischen Raum mit 60%. Der Verlust von Arten ist hauptsächlich auf die Zerstörung und Verschlechterung von Lebensräumen zurückzuführen, die durch das Wachstum industrieller Nahrungsmittelsysteme beschleunigt wurde.
Diese kumulativen Auswirkungen können sich selbst verstärkende Schwellenwerte erreichen, die zu erheblichen, oft abrupten und potenziell irreversiblen Veränderungen führen – so genannte Kipppunkte. Beispiele hierfür sind der Zusammenbruch von Korallenriffen, das Abschmelzen der Polkappen, der Verlust von Tropenwäldern und die Störung der thermohalinen Meeresströmungen. Sobald die Schwellenwerte überschritten sind, können die Folgen schwerwiegend und weitreichend sein.
Können die Märkte durch einen Preis für die Natur helfen?
Der Wert der Natur für die Weltwirtschaft ist beträchtlich und komplex: Ökosystemleistungen wie Bestäubung, Kohlenstoffbindung, Wasserreinigung, Ressourcen-Bereitstellung und Klimaregulierung haben einen geschätzten jährlichen Wert von Billionen. Einem Bericht des WEF zufolge ist mehr als die Hälfte des weltweiten BIP (ca. 44 Billionen USD) mässig oder stark von der Natur abhängig.
Trotzdem ist die Natur ein blinder Fleck in der Wirtschaft, wie der «Dasgupta Review on the Economics of Biodiversity» zeigt. Der Bericht stellt fest, dass naturbasierte Wirtschaftszweige wie regenerative Landwirtschaft, Fischerei, Forstwirtschaft, Naturschutz und Ökotourismus weltweit einen erheblichen Beitrag zur Wirtschaft leisten. Die biologische Vielfalt spielt eine entscheidende Rolle bei Arzneimitteln, Biotechnologie und genetischen Ressourcen und bietet potenzielle wirtschaftliche Vorteile durch Innovation und wissenschaftliche Entdeckungen. Auch die Wiederherstellung und Erhaltung ökologischer Infrastrukturen wie Mangroven, Feuchtgebiete, Wassereinzugsgebiete, Primärwälder, Flussmündungen und Flüsse erbringen weiterhin wichtige Ökosystemleistungen wie Brandverhütung, Schutz vor Sturmfluten und Wasserfilterung.
Was gemessen wird, kann verwaltet und bewertet werden
In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die Erdbeobachtungstechniken erheblich weiterentwickelt und unser Verständnis des globalen Zustands der Ökosysteme und der Artenvielfalt revolutioniert. Fortschritte bei Satellitenbildern, Fernerkundung, LiDAR-Drohnen, eDNA-Probenahmen, die Integration von KI, akustische Überwachung und das Wachstum von Citizen-Science-Netzwerken ermöglichen jetzt eine breitere Perspektive auf das sichere Funktionieren der lebenden Systeme der Erde.
Fortschritte bei der Genauigkeit und Erschwinglichkeit von Biodiversitätsmessungen bedeuten nun, dass Ökosystemleistungen quantifiziert werden können, und zwar in einer Weise, die die zunehmenden Bemühungen um die Anerkennung ökologischer Werte in den Bilanzen ihrer Bewahrer unterstützt.
Wer sich mit der Erhaltung und Wiederherstellung von Ökosystemen befasst, für den gibt es jetzt eine unterstützende Politik, einen Normenrahmen, gebundenes Kapital, neue ‘digitale’ Überwachungs- und Bewertungstechniken, innovative Finanzinstrumente und einen wachsenden Markt für Biodiversitäts- und Kohlenstoffgutschriften. Trotz der Schlagzeilen gibt es Grund zu vorsichtigem Optimismus in der Welt der Naturfinanzierung. (Reyl/mc)