Frühester erhaltener Basler Film: 47 Sekunden auf der Alten Rheinbrücke
Basel – Aus dem frühesten erhaltenen Basler Film rekonstruieren Medienhistoriker der Universität Basel und der Hochschule für Gestaltung und Kunst ein Stück Stadtgeschichte.
Auf den ersten Blick ist es ein zufälliger Ausschnitt aus dem städtischen Alltag vom 1896: Auf der damaligen Alten Rheinbrücke mit Blick auf Käppelijoch und Kleinbasel ziehen Passanten vorbei oder stehen herum, meist in die Kamera blickend, mehrheitlich dunkel gekleidete Männer und Jugendliche. Ein Arbeiter bespritzt Tramschienen, von einer Kutsche herab fuchtelt ein auffällig gekleideter Herr nervös mit den Händen, ein Bierwagen mit Pferden zockelt vorbei, ein Hund trollt sich davon.
Neueste Forschungsarbeiten zeigen nun: Fast alles in dieser kurzen, scheinbar spontanen Szene ist gestellt. In diesem frühesten Basler Film, gedreht von einem jungen Kameramann der Filmpioniere Gebrüder Lumière, finden sich nämlich Details, die das Ganze als wohlgeplantes Arrangement entlarven. Herausgefunden hat dies eine Gruppe von Medienhistorikern unter Leitung von Hansmartin Siegrist am Fachbereich Medienwissenschaft der Universität Basel und an der Hochschule für Gestaltung und Kunst der FHNW.
Auf die halbe Stunde genau
Seit vier Jahren untersucht das Team die Hintergründe des 47-Sekunden-Films mit dem offiziellen Titel «Lumière 308 – Bâle: Pont sur le Rhin». Das Filmmaterial war vor über 20 Jahren entdeckt und öffentlich gezeigt worden. Seitdem sind die Forschenden bei ihren akribischen Recherchen auf zahlreiche gesicherte Erkenntnisse gestossen. So liess sich der Streifen etwa mit Wetterdaten nicht nur erstaunlich genau datieren – auf den 28. September 1896, um 10.30 Uhr –, sondern auch viele Akteure namentlich identifizieren.
«Dieses Filmdokument wurde von der Forschung sträflich unterschätzt», sagt Siegrist, «dabei erlaubt es einen Blick auf Basel auf dem Höhepunkt des Fin de Siècle». Die detektivischen Feinarbeiten seines Teams wurden von rund 50 Institutionen und Archiven unterstützt. Es lohnte sich: Zum Vorschein kam eine Reihe von Zusammenhängen der frühen Filmgeschichte und damit auch Informationen zur damaligen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ähnlich intensiv untersucht worden sind bisher erst einige wenige der allerfrühesten Lumière-Filme.
Befehle aus der Kutsche
So wurde der händeringende Herr auf der Kutsche relativ schnell als der Geschäftsmann François-Henri Lavanchy-Clarke erkannt, der Regieanweisungen gibt und den wartenden Statisten Beine macht. Bekannt war er als umtriebiger Werbemann, Konzessionär für Sunlight-Seifen in der Schweiz und Lumière-Vertreter der ersten Stunde, so etwa an der Genfer Landesausstellung von 1896. Im Verteil- und Promotionssystem des damaligen Kinematografen war er als Lizenzbesitzer eine zentrale Figur – und zugleich eine schillernde.
Der erste Basler Kurzfilm entpuppt sich damit als ein Marketingprodukt, das der damals neuen Bildtechnologie – und den beworbenen Sunlight-Seifen – zum kommerziellen Durchbruch verhelfen sollte: Der Kinematograf diente gleichzeitig zum Aufnehmen, Kopieren und Vorführen von Filmmaterial. Doch dieses Gerät, das sich bald gegen die Konkurrenz durchsetzte, konnte nur knapp eine Minute oder 17 Meter Film aufnehmen: Die bewegten Bilder standen erst am Anfang ihrer Karriere.
Lavanchy-Clarke, der in Sachen Seife und Kino in ganz Europa herumreiste, führte daneben im Basler Stadtcasino eigene Kurzfilme vor. Bereits wenige Tage nach dem Dreh auf der Rheinbrücke zeigte er die Szene als «lebende Photographien in natürlicher Grösse», ausserdem andere Lumière-Filme. Ein halbes Jahr später drehte er auch an der Basler Fasnacht.
Seidenindustrieller mit Familie
Die Forschenden konnten weitere Prominente im Film eruieren. Einer von ihnen ist der erfolgreiche Industrielle, Seidenfärbermeister und vermutliche Geschäftspartner des Produzenten, Achilles Lotz-Trueb, der sich als frischgebackener Oberst-Meister der Drei Ehrengesellschaften in Szene setzt. Auch viele seiner Familienmitglieder haben im Film ihren Auftritt. Gezeigt wird wohl nicht zufällig denn auch das Obere Kleinbasel, Ort des Lotz’schen Imperiums, und nicht das Grossbasler Ufer.
Als einen Nebenregisseur identifizierten die Medienhistoriker von den 76 auftretenden Personen den Mann mit Regenschirm, der zwei Jungen verscheucht: Paul Barth, einen Onkel zweiten Grades von ihnen. In einer anderen Figur, einem würdigen Herrn am Bildrand, vermuten sie den legendären Jesuitenpater Abbé Joye, den Pionier der Basler Foto- und Filmgeschichte: Als einer der Ersten veranstaltete der technikaffine und populäre Gottesmann Lichtbildervorträge und setzte den Kinematografen für seine Stadtmission ein.
Inszenierter Alltag
Schliesslich stiess das Forschungsteam auf ein weiteres frühes «Product-Placement» – dann nämlich, wenn ein Bierwagen mit der Aufschrift «Basler Löwenbräu» mit zwei Pferden vorbeizieht. Das moderne Tram wird dagegen nur noch kurz im Hintergrund sichtbar. Dies offenbar, weil Lavanchy auf der Kutsche seinen Einsatz beim Dreh vermasselt hatte. Denn in ähnlichen Lumière-Filmen mit Strassenszenen fuhr das damals brandneue Gefährt jeweils prominent durchs Bild.
Ob es aus den wenigen Sekunden Film noch mehr herauszufinden gibt? Die Filmhistoriker gehen davon aus. «Im Moment läuft das muntere Identifizieren mühelos weiter», sagt Siegrist. Das Motiv der belebten Brücke, aufgenommen von einem feststehenden Stativ, war bei den Lumière beliebt. Wie auf einer Bühne liess sich hier städtisches Leben vor 1900 in Szene setzen. Die Alte Rheinbrücke war übrigens bald dem Abbruch geweiht: Wenige Jahre später musste der historische Bau aus dem 13. Jahrhundert der neuen Brücke Platz machen.
Virtuelle Zeitreisen
Mit Bild- und Plandaten aus dem Staatsarchiv Basel-Stadt hat das Forschungsteam der Universität Basel und HGK die Alte Rheinbrücke digital nachgebaut. Ebenso machten die Filmhistoriker die Brücke mit Techniken der Virtual Reality begehbar, sodass sie als Bühne auch zur Filmanalyse dient – zum Nachmessen und Deuten von Position und Bewegung der Protagonisten. Daraus lässt sich ein digitales Tool für Schulen entwickeln, das zum Beispiel virtuelle Zeitreisen möglich macht. Zum Forschungsprojekt soll 2019 eine rund 500-seitige Publikation erscheinen. (Universität Basel/mc/ps)