A.T. Kearney-Studie: Europäische Hightech-Industrie verliert an weltweiter Relevanz

Hitech

Zürich – Hightech als Kernindustrie in Europa ist bedroht. Nur noch neun der weltweit führenden 100 Hightech-Unternehmen haben ihren Hauptsitz in Europa, so eine Studie der Unternehmensberatung A.T. Kearney, für die auch Schweizer Unternehmen betrachtet wurden. Dabei ist dieser Sektor von entscheidender Bedeutung für Europas künftige Konkurrenzfähigkeit. Zurückzuführen ist die Entwicklung unter anderem auf die Verlagerung der Nachfrage in andere Märkte, fehlende Fachkräfte und fehlende finanzielle Mittel, unzureichende strategische Weitsicht und das Fehlen einer koordinierten gesamteuropäischen Initiative. A.T. Kearney fordert einen dreigleisigen Ansatz für Europa: „Enable – Focus – Excel“. Es gilt, zeitnah die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und einen fokussierten Masterplan für Hightech-Wachstum in Europa zu erarbeiten, der mit Weitsicht, Innovationsgeist und partnerschaftlicher Zusammenarbeit umgesetzt wird.

Europas internationale Wettbewerbsfähigkeit hängt massgeblich vom Hightech-Sektor ab. Technologie spielt praktisch in jeder Branche eine entscheidende Rolle, denn Maschinen, Produkte und Netzwerke werden immer intelligenter. Europa braucht einen gesunden Informations- und Kommunikationstechnologie-Sektor (ICT) als Treiber für Innovation, um die Konkurrenzfähigkeit seiner Kernbranchen wie Automobilbau, Luft- und Raumfahrt, Industrietechnik, Einzelhandel, Telekommunikation und Energieversorgung zu erhalten und damit Arbeitsplätze und Wohlstand für die Zukunft zu sichern.

Eine neue Studie von A.T. Kearney zeigt, dass knapp über zehn Prozent der weltweiten Umsätze im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie der Top-100-ICT-Unternehmen durch europäische Unternehmen generiert werden. Lediglich neun der Top-100-ICT-Unternehmen haben ihren Hauptsitz in Europa. Diese Zahl schrumpft seit Jahren aufgrund von Fusionen und Übernahmen und aufgrund des schnelleren Wachstums asiatischer und US-amerikanischer Firmen. Viele wichtige europäische Branchen sind daher auf nicht europäische Hightech-Anbieter angewiesen – sowohl in Bezug auf die Produktion als auch auf die Entwicklung und Innovation. Die Europäische Kommission hat zwar offiziell die Bedeutung von Technologie für Europa bestätigt, doch die Initiativen der Politik haben bislang nicht ausgereicht, um den Abschwung des europäischen Hightech-Sektors zu stoppen.

Europa verliert an Boden
Der Schwerpunkt der Studie von A.T. Kearney liegt auf neun Sektoren der ICT-Industrie: IT-Services, IT-Hardware, Software, Kommunikationsausrüstung und Services, Unterhaltungselektronik, mobile Endgeräte, PCs/Laptops/Tablets, Halbleitertechnologie und elektronische Bauelemente. Die 100 grössten ICT-Unternehmen der Welt erwirtschafteten in diesen Segmenten im Jahr 2012 einen Umsatz von 1,67 Billionen US-Dollar – eine Steigerung gegenüber den 1,59 Billionen US-Dollar im Jahr 2011. Europa ist jedoch nur schwach repräsentiert. Von den neun Top-100-ICT-Firmen aus Europa verschwindet dieser Tage eine weitere von der Liste, wenn Microsoft die Geräte- und Dienstleistungssparte von Nokia im Frühjahr offiziell übernimmt. Danach ist Europa unter den zehn grössten Telefonherstellern der Welt nicht mehr vertreten, ganz anders als vor 15 Jahren, als europäische Unternehmen den Sektor dominierten.

„Am besten schneidet Europa in den B2B-Bereichen ab. Es gibt jedoch auch einige Unternehmen, die in Teilmärkten führend sind, aber nicht zu den Top 100 zählen“, erklärt Axel Freyberg, Partner und Leiter des Beratungsbereichs Kommunikation, Medien und Technologie von A.T. Kearney in EMEA sowie Co-Autor der Studie. „Insgesamt gibt es in Europa aber nur wenige bedeutende ICT-Unternehmen, die aufgrund ihrer Grösse die Möglichkeit haben, als Konsolidierer in ihrem jeweiligen Segment aufzutreten. Europäische Hightech-Firmen laufen häufig Gefahr, Übernahmen durch grössere Konkurrenten ausserhalb von Europa zum Opfer zu fallen.“

Nicht nur die Zahl der ICT-Unternehmen in Europa, auch ihr Anteil am weltweiten Umsatz nimmt laufend ab. Laut prognostizierter jährlicher Wachstumsrate von 2011 bis 2015 wächst Europa (2,2 Prozent) um die Hälfte langsamer als Nordamerika (5,2 Prozent) und Asien (5,4 Prozent). Insbesondere in den wichtigen Sparten wie IT-Services, Software, Kommunikationssysteme und -dienste, IT-Hardware und Halbleitertechnologie verliert Europa als Markt an Bedeutung. „Europäische Unternehmen – insbesondere IT-Dienstleister – sind stärker von der regionalen Nachfrage abhängig als ihre amerikanischen und asiatischen Konkurrenten, so dass Europa allein durch die Marktverschiebung Marktanteile verloren gehen“, erklärt Thomas Kratzert, Partner bei A.T. Kearney und Co-Autor der Studie.

Massnahmen der EU greifen zu kurz
Die Gründe, warum Europa an Boden verliert, sind vielfältig: Zum einen fehlt es an strategischer Weitsicht und Innovationskraft, zum anderen an qualifizierten Fachkräften und strategischen Partnerschaften zwischen der EU und Unternehmen sowie zwischen Unternehmen selbst. Die Fragmentierung des europäischen Markts und die Knappheit der Finanzmittel, die Unternehmen für die internationale Expansion benötigen, begrenzen darüber hinaus das Wachstum des Sektors.

Die EU-Kommission hat viele dieser Mängel erkannt und reagiert mit verschiedenen Massnahmen, unter anderem mit dem Rahmenprogramm „Horizont 2020“, das 2013 aufgelegt wurde. „Diese Initiativen mit ihrem Fokus auf Forschung und deren Kommerzialisierung – neuerdings auch Inkubation – greifen in der Regel aber zu kurz“, sagt Freyberg. „Es fehlt ein strategischer Masterplan, bei dem die EU verstärkt auf ICT-Sektoren mit Wachstumspotenzial setzt sowie führende Unternehmen durch gezielte Industriepolitik dabei unterstützt, ihre Marktposition zu festigen und an Grösse zu gewinnen.“ Die EU hat begonnen, die richtigen Branchen zu identifizieren. Nun gilt es, diese über eine strategische Richtungsgebung, gezielte Nachfragesteuerung, fokussierte Finanzierung und vorwettbewerbliche Partnerschaften entschieden zu fördern. Nicht zuletzt die Veröffentlichungen zu den Überwachungsaktivitäten der National Security Agency der USA haben die Abhängigkeit Europas von nordamerikanischen und asiatischen Hightech-Unternehmen vor Augen geführt und den Handlungsbedarf aufgezeigt.

Zehn Punkte für einen wettbewerbsfähigeren europäischen Hightech-Sektor
Aus der Studie gehen konkrete Massnahmen für EU-Institutionen, nationale Regierungen, Branchenverbände und einzelne Unternehmen hervor, um die ICT-Branche wiederzubeleben. Sie lassen sich in drei Kategorien unterteilen: „Enable“, „Focus“ und „Excel“.

1. „Enable“: Rahmenbedingungen für Wachstum schaffen
Europa sollte das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften durch eine stärker technologieorientierte Ausbildung und gezielte Zuwanderung erhöhen. Es gilt zudem, eine bessere Risikokapital- und Wachstumsfinanzierung für Hightech-Unternehmen zu gewährleisten, Freiräume für unternehmerisches Handeln zu schaffen und Erfolge zu belohnen. Durch einheitliche Standards und Vorschriften sollte darüber hinaus ein einheitliches Wettbewerbsumfeld etabliert werden.

2. „Focus“: Fokussierte Strategie zur Überwindung der Fragmentierung umsetzen
Die EU und Länderregierungen sollten zusammen mit der Industrie einen EU-weiten Masterplan entwickeln, der erfolgversprechende ICT-Bereiche in den Mittelpunkt stellt, um in diesen weltweit eine Spitzenposition zu erlangen. Angesichts der verbleibenden Hightech-Unternehmen und der industriellen Basis in Europa bieten sich hier insbesondere Hightech-Lösungen für Unternehmen (B2B) als Fokus für einen solchen Masterplan an. Eine Fokussierung der Investitionen gewährleistet dabei, dass Ressourcen gezielt verteilt werden. In der Folge sollte Europa paneuropäische Exzellenz-Cluster für diese Schwerpunkte aufbauen und seine Ausgaben und Investitionskraft für die Entwicklung dieser Bereiche nutzen.

3. Excel: Mit Innovation, Partnerschaft und Führungsstärke gegen den weltweiten Wettbewerb antreten
Die europäischen Unternehmen müssen auf künftige Herausforderungen mit grösserer strategischer Weitsicht und Entschlossenheit reagieren. Durch höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung können sie ihre Innovationskraft steigern und Wachstum generieren. Insbesondere strategische, auf längerfristige Zusammenarbeit ausgelegte Partnerschaften von Unternehmen europäischer Kernbranchen sowie von europäischen Institutionen mit europäischen Hightech-Unternehmen können den erforderlichen Impuls für Innovationen und Wachstum geben – dabei sind kurzfristige Kosteneinsparungen gegenüber dem strategischen Wert einer Partnerschaft mit einem in Europa ansässigen Hightech-Anbieter immer auszubalancieren.

Schnelles Handeln gefordert
Aufgrund der speziellen geografischen, geschichtlichen und kulturellen Gegebenheiten Europas können hierzulande unmöglich die Bedingungen reproduziert werden, die das Wachstum von ICT-Unternehmen in Nordamerika und Asien so beflügelt haben. „Die besondere Struktur Europas fördert einerseits eine gesunde Konkurrenz, erschwert aber zugleich das Wachstum“, sagt Kratzert.

Die europäischen Institutionen und Regierungen können noch mehr dazu beitragen, ihre industrielle Wettbewerbsfähigkeit zu festigen. „Horizont 2020“ ist ein guter Anfang, aber es kann noch mehr getan werden. „Die politischen Entscheidungsträger haben die Möglichkeit, die Regeneration der ICT-Industrie zu einer Top-Priorität zu machen“, sagt Freyberg. „Regierungsbehörden, ICT-Firmen, Investoren und Branchenverbände sollten gemeinsam einen langfristigen Masterplan erarbeiten.“

Wenn jetzt keine Entscheidungen getroffen werden, wird die europäische Hightech-Industrie weiter an Relevanz verlieren. Werden jedoch die richtigen Massnahmen ergriffen, kann sich Europa eine starke Stellung im internationalen Technologiesektor zurückerobern. „Wir brauchen mehr paneuropäische Führung, nicht weniger“, so Freyberg abschliessend. (A.T. Kearney/mc/ps)

Über die Studie
Die Studie von A.T. Kearney zum europäischen Hightech-Sektor basiert auf einer Analyse von Branchendaten sowie auf Gesprächen mit den wichtigsten Führungskräften, Forschern und Meinungsbildnern aus der Branche.

Über A.T. Kearney
A.T. Kearney zählt zu den weltweit führenden Unternehmensberatungen für das Top-Management und berät sowohl global tätige Konzerne als auch mittelgrosse Unternehmen und öffentliche Institutionen. Mit strategischer Weitsicht und operativer Umsetzungsstärke unterstützen wir unsere Klienten bei der Transformation ihres Geschäfts und ihrer Organisation. Im Mittelpunkt stehen die Themen Wachstum und Innovation, Technologie und Nachhaltigkeit sowie die Optimierung der Unternehmensperformance durch das Management von Komplexität in globalen Produktions- und Lieferketten.
A.T. Kearney wurde 1926 in Chicago gegründet. Die Aktivitäten in der Schweiz werden seit über 20 Jahren aus unserem Büro in Zürich geführt. Heute beschäftigt A.T. Kearney rund 3200 Mitarbeiter in 39 Ländern der Welt. Seit 2010 beraten wir unsere Klienten klimaneutral.
Weitere Informationen finden Sie unter www.atkearney.ch.

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