Von Alex Smith, Equity Investment Specialist, abrdn
Die indische Wachstumsgeschichte ist bemerkenswert. In jüngster Zeit war es eine der am schnellsten wachsenden grossen Volkswirtschaften der Welt und auch der Aktienmarkt erlebte seit der COVID-19-Pandemie einen Höhenflug.
Dennoch steht das Land im Jahr 2025 vor Herausforderungen. Die Wirtschaft zeigt Anzeichen einer Verlangsamung. Die Aktienmärkte haben in den letzten Monaten stark korrigiert, was zum Teil auf das gedämpfte kurzfristige Gewinnwachstum zurückzuführen ist. Die Bewertungen sind nach wie vor überhöht. Ausserdem könnte eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump die Handelsbeziehungen belasten. Sollten sich die Anleger Sorgen machen?
Obwohl Vorsicht immer angebracht ist, glauben wir, dass die Antwort „nein“ lautet. Schauen wir uns das einmal genauer an.
Handel: Indiens Abschottung
Präsident Donald Trump hat seine Absichten in Bezug auf Zölle deutlich gemacht und sie als «das schönste Wort im Wörterbuch» bezeichnet. China, Mexiko und Kanada hat er als erstes im Visier. Er hat auch damit gedroht, die BRIC-Länder, einschliesslich Indien, mit 100 % Zöllen zu belegen.
Die Aussicht auf Handelsbeschränkungen ist natürlich beunruhigend. Indien ist ein bedeutender Exporteur von IT-Dienstleistungen und Arzneimitteln in die USA. Allerdings ist das Handelsdefizit der USA gegenüber Indien im Vergleich zu den anderen grossen Volkswirtschaften relativ gering (siehe Abbildung 1). Damit dürfte Indien auf der Liste der Angriffsziele weiter unten stehen, wenn die ersten Salven abgefeuert werden.
Ausserdem verfügt Indien über beträchtliche Devisenreserven, die sich Ende November auf 635 Milliarden US-Dollar beliefen. Diese Reserven sollten einen Puffer bieten, um die Rupie bei Bedarf zu verteidigen, und die Reserve Bank of India (RBI) in die Lage versetzen, Offenmarktgeschäfte durchzuführen und so für reichlich Liquidität im System zu sorgen.
Abbildung 1: US-Handelsbilanz gegenüber ausgewählten Ländern der Welt, in Mrd. USD (2023)
Am wichtigsten ist, dass die indische Wirtschaft weitgehend von inländischen Faktoren angetrieben wird, was ihr eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegenüber globalen wirtschaftlichen Umwälzungen verleiht.
Wirtschaft: global denken, lokal handeln
Ungefähr 80 % des indischen BIP-Wachstums wird durch interne Investitionen, Konsum und Staatsausgaben getragen. In den letzten zehn Jahren hat die Regierung mehrere schmerzhafte, aber entscheidende Reformen durchgeführt, die Indien auf eine stabilere wirtschaftliche Grundlage gestellt haben. So wurde beispielsweise mit der 2017 eingeführten Waren- und Dienstleistungssteuer die Steuerstruktur Indiens vereinfacht, während niedrigere Subventionen die Haushaltslage der Regierung stärkten. Diese Massnahmen haben die Abhängigkeit von der Emission neuer Anleihen als Finanzierungsquelle verringert. Die Regierung unternahm auch zusätzliche Schritte, um die Kosten für Geschäfte in Indien zu senken.
Auf Unternehmensseite hat die beschleunigte Digitalisierung die Effizienz gesteigert und die Rentabilität erhöht. Gleichzeitig haben die Bemühungen um die Beseitigung notleidender Forderungen in der Wirtschaft die Bilanzen der Unternehmen gestärkt. In den letzten Jahren hat die Regierung in Infrastrukturentwicklungsprojekte wie den Bau von Strassen, Häfen und Eisenbahnen investiert. Private Investitionsausgaben sind gefolgt.
Darüber hinaus strebt Indien danach, ein globales Produktionszentrum nach dem Vorbild Chinas zu werden und vom internationalen Trend zur Diversifizierung der Lieferketten zu profitieren. Indien ist bereits ein globales Drehkreuz für IT-Dienstleistungen und andere Back-Office-Funktionen, da das Land über qualifizierte und dennoch kostengünstige Arbeitskräfte verfügt.
Seit der Pandemie haben viele multinationale Unternehmen versucht, das Risiko durch eine Diversifizierung ihrer Lieferketten zu verringern – die «China + 1»-Strategie. Indien mit seiner grossen Zahl an jungen, gebildeten und englischsprachigen Arbeitskräften wird langfristig von diesem Trend profitieren.
Die Regierung hat ihrerseits Unternehmen durch Initiativen wie produktionsgebundene Anreizsysteme ermutigt, ihre Produktionsstätten nach Indien zu verlegen. Diese bieten Steuererleichterungen und Investitionszuschüsse, insbesondere für High-End-Produktionsbereiche wie Smartphones. Die Arbeitslosigkeit, die seit jeher eine Belastung für die Wirtschaft darstellt, verbessert sich. Die Quote ist von 6 % im Jahr 2017 auf 3,2 % im Jahr 2024 gesunken.
Vorübergehender Rückschlag in einer vielversprechenden Wachstumsgeschichte
Das aktuelle Wirtschaftsklima ist schwieriger geworden. Für das Haushaltsjahr 2024-25 wird ein Wirtschaftswachstum von 6,4 % prognostiziert (gegenüber 8,2 % im Vorjahr), das geringste seit vier Jahren. Mehrere Faktoren haben zu dieser Verlangsamung beigetragen, darunter eine gedämpfte Verbrauchernachfrage und geringere Staatsausgaben. Wir gehen davon aus, dass dies eine vorübergehende Flaute sein wird.
Während die Nachfrage in den Städten weiterhin durch den kurzfristigen Inflationsdruck beeinträchtigt werden könnte, gibt es Anzeichen dafür, dass die längst überfällige Erholung der Nachfrage auf dem Lande allmählich einsetzt. Der starke Monsun des letzten Jahres dürfte diese Entwicklung fördern. Es wird erwartet, dass die staatlichen Ausgaben für Investitionsprojekte jetzt, da die störenden Parlamentswahlen vorbei sind und die ausgedehnten Monsunregen endlich aufgehört haben, wieder anziehen werden. Auch die Bautätigkeit dürfte wieder anziehen. Nach einer langen Phase stabiler Zinssätze könnte die Zentralbank in diesem Jahr die Zinsen senken.
Der jüngste Haushaltsplan wurde am 1. Februar veröffentlicht. Das Ergebnis war recht ausgewogen, wobei der Schwerpunkt auf der Ankurbelung des Konsums lag, der in den letzten Quartalen schwach war. Wie erwartet räumte die Regierung auch der Haushaltskonsolidierung und der makroökonomischen Stabilität Priorität ein.
Gewinnwachstum
Das Gewinnwachstum in Indien hat sich in den letzten Quartalen abgeschwächt, während gleichzeitig eine steile und langanhaltende Korrektur an den Aktienmärkten stattfand. Dieser Trend wurde in erster Linie von den Finanz- und Konsumsektoren angetrieben, die einen erheblichen Prozentsatz der lokalen Indizes ausmachen. In anderen Sektoren wie Telekommunikation, IT, Immobilien und Pharmazeutika ist jedoch weiterhin ein Wachstum zu verzeichnen. Strukturell erwarten wir ein weiterhin robustes Wachstum der Unternehmensgewinne, das durch makroökonomischen Rückenwind und starke Bilanzen gestützt wird.
Trotz dieser zwischenzeitlichen Herausforderungen ist unser Ausblick insgesamt positiv. Wir bevorzugen weiterhin Unternehmen, die ein stabiles Ertragswachstum erzielen, das durch solide Fundamentaldaten wie Preissetzungsstärke und robuste Bilanzen gestützt wird.
Bewertungen: Jüngste Korrekturen bieten eine Chance zur Akkumulation
Indische Aktien waren im Vergleich zu anderen Schwellenländern schon immer relativ teuer. Die glänzende Performance seit der Pandemie hat diesen Abstand noch vergrössert. Die jüngste Korrektur, die auf eine Abschwächung des Gewinnwachstums zurückzuführen ist, hat jedoch zu einem Rückgang der Bewertungen geführt. Darüber hinaus ist ein Teil der Marktprämie durch das vielversprechende langfristige Umfeld und die Auswirkungen der Reformen auf die Gesamtwirtschaft gerechtfertigt. Die indischen Unternehmen befinden sich in einer relativ besseren Verfassung als in der Vergangenheit, was sich in einem stetigen Gewinnwachstum und der Umsetzung der Unternehmensstrategien widerspiegelt.
Für die Aktienmärkte ist es auch wichtig, die Veränderungen bei den inländischen Kapitalströmen zu verstehen. Wir haben eine Zunahme der Käufe von Privatanlegern beobachtet, mit einer bemerkenswerten Verlagerung hin zu SIPs (systematische Investmentpläne), bei denen sich die Anleger zu regelmässigen monatlichen Investitionen in Investmentfonds verpflichten. Zwar haben sich die Mittelzuflüsse in den letzten drei Monaten abgeschwächt, doch könnte sich dieser Trend langfristig fortsetzen, wobei der Anteil der Aktienanlagen an den Bruttoersparnissen der privaten Haushalte bei etwa 9 % liegt.
Nichtsdestotrotz gibt es immer noch Übertreibungen auf dem Markt. Deshalb begrüssen wir den jüngsten Ausverkauf und betrachten ihn angesichts unserer positiven langfristigen Aussichten als Kaufgelegenheit. Letztendlich betrachten wir den Markt Bottom-up und beurteilen die Bewertungen der einzelnen Aktien.
Abschliessende Gedanken…
Trotz kurzfristiger Herausforderungen bleibt Indiens Wachstumsgeschichte überzeugend. Eine unterstützende Politik der Zentralregierung und ein Jahrzehnt notwendiger Wirtschaftsreformen haben Indien auf einen positiven Kurs gebracht. Das Land ist auch im Falle eines Handels- und Zollkriegs unter Trump 2.0 relativ abgeschirmt, was der Wirtschaft in Zeiten des Umbruchs Widerstandsfähigkeit verleiht.
Unserer Ansicht nach lässt sich das Potenzial Indiens am besten nutzen, wenn man in Qualitätsunternehmen investiert, die von langfristigem strukturellem Rückenwind profitieren, z. B. dem aufstrebenden Konsum, der Entwicklung der Infrastruktur, dem Gesundheitswesen und der Digitalisierung. Wie immer wird ein aktiver Ansatz vor Ort der Schlüssel zur Erschliessung dieser überzeugenden Investitionsmöglichkeit bleiben.