abrdn: Europäische Aktien – Gründe, optimistisch zu sein
Von Jamie Mills O’Brien, Investments Manager, abrdn
Es besteht kein Zweifel, dass 2022 – mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine, einer Energiekrise, der höchsten Inflation seit Jahrzehnten, steigenden Zinssätzen, einer wahrscheinlichen Rezession und anhaltenden politischen Unruhen – ein verheerendes Jahr für Europa war. Aktien haben ihr schlechtestes Jahr seit der Weltwirtschaftskrise hinter sich, während Anleihen ihr schlechtestes Jahr seit über 40 Jahren verzeichneten.
Vor diesem Hintergrund sind die Anleger nicht in der Stimmung, auf die Nachricht anzusprechen, dass die europäischen Aktien derzeit zu historisch günstigen Kursen gehandelt werden. Es wächst die Sorge, dass Europa von Problemen geplagt wird, dass es eine «alte», zyklische Wirtschaft ohne Binnenwachstum ist und dass sich die Anleger fernhalten sollten.
Wir sind jedoch ganz anderer Meinung als die Kritiker und glauben, dass die Aussichten für Europa heute so gut sind wie schon lange nicht mehr, auch wenn Europa im nächsten Jahr wahrscheinlich eine Rezession erleben wird.
Derzeit gehen wir von einer Abnahme des BIP in Europa um etwa 1 % im Jahr 2023 aus. Wir sind jedoch nicht pessimistisch, sondern sehen drei wesentliche Gründe, warum Anleger die zahlreichen Chancen, die die Region bietet, nutzen sollten.
Innovation und Erbe
Erstens gibt es zahlreiche Unternehmen, die erfolgreich das beneidenswerte Erbe und die Geschichte Europas mit modernster Innovation und Technologie verbinden. Zweitens baut der Kontinent weiter auf seine Stärken in den Bereichen Nachhaltigkeit und grüne Technologien. Und schliesslich unterschätzen die Investoren immer noch die wachsenden Stärken Europas in der industriellen Digitalisierung.
In diesen Segmenten gibt es überall auf dem Kontinent Unternehmen mit starken, wettbewerbsfähigen Marktpositionen, erfolgreiche Firmen, die ihre Ertragskraft kontinuierlich steigern. Wir glauben, dass diese Faktoren in einer Welt, in der niedrige Zinsen und niedrige Inflation nicht mehr die Haupttreiber der Vermögenspreise sind, immer wichtiger werden.
Luxus und Tradition
Dank seiner langen Tradition in der handwerklichen Fertigung ist Europa die Heimat von weltbekannten Luxusunternehmen wie Hermes und LVMH. Gleichzeitig hat die industrielle Stärke des Kontinents Unternehmen wie Dassault, Nemetschek und Schneider hervorgebracht. Zu diesen Unternehmen gesellt sich in zunehmendem Masse das europäische Know-how im Bereich der Unternehmensführung – in Bereichen wie Zahlungsverkehr, Industrieautomatisierung und Internetplattformen. Wir sind der Meinung, dass dieses Gleichgewicht eine der unterschätzten und unterbewerteten Stärken Europas ist. Für Anleger sind diese Unternehmen eine grossartige Gelegenheit, Unternehmen mit einer Vielzahl von strukturellen Faktoren in einer Reihe von Branchen zu besitzen.
Vorreiter im Bereich verantwortungsvolle Investitionen
Wir sind auch seit langem der Meinung, dass Europa das globale Zentrum des verantwortungsvollen Kapitalismus ist. Die Idee, dass nachhaltiger Gewinn und Nachhaltigkeit eine sich gegenseitig verstärkende Dynamik darstellen, wurde in Europa geboren und genährt. Auch die politischen Entscheidungsträger haben diese Agenda vorangetrieben. Im Dezember 2019 kündigte Europa einen Green Deal in Höhe von einer Billion Euro an.
Für viele war dies der Höhepunkt der öffentlichen und steuerlichen Unterstützung und der weltweiten Führungsrolle des Privatsektors bei grünen Technologien und der Energiewende.
Der Krieg in der Ukraine hat die Dinge sicherlich verkompliziert. Einige sind der Meinung, dass der Konflikt die grüne Agenda Europas gefährdet hat. Die Öl- und Gasunternehmen profitieren von den Rekordpreisen, während die Rüstungsunternehmen über steigende Auftragsbestände berichten.
Nichtsdestotrotz sind die grünen Ambitionen Europas nicht nur unverändert, sondern stehen jetzt auch in vollem Einklang mit den Bestrebungen der Region, Energiehoheit zu erlangen. Der Wunsch Europas, sich vom bisherigen Energiesystem zu lösen und den Übergang zu erneuerbaren Energien voranzutreiben, hat sich verstärkt.
Eine digitale Revolution
Vor Covid-19 verlagerten sich die Wachstumstreiber im IT-Bereich vom mobilen Internet und den Verbrauchern auf die Digitalisierung der Industrie. Die Pandemie hat diesen Wandel beschleunigt. Europa, ein zentraler Akteur der industriellen Revolution, hat zahlreiche verarbeitungsorientierte Volkswirtschaften, und viele von ihnen stehen heute im Mittelpunkt der industriellen Digitalisierung und Automatisierung. Die IT-Ausgaben im verarbeitenden Gewerbe steigen weiter an. Von industriellen Software- und Halbleiterfirmen bis hin zu Marktführern in der Robotik und Automatisierung – die Aussichten für zahlreiche europäische Unternehmen haben sich deutlich verbessert.
Aus all diesen Gründen sind wir der Meinung, dass die Anleger über die Schlagzeilen hinausschauen müssen. Wenn sie das tun, werden sie einige der besten Unternehmen der Welt zu äusserst attraktiven Preisen finden. Sie können auch aufstrebende Marktführer in strukturell wachsenden Branchen finden. Zu den Sektoren, in denen wir auch im kommenden Jahr eine gute Performance erwarten, gehören Pharma, Energie, Banken und Technologie – alles Bereiche, in denen Innovation und Nachfrage hoch sind.
Der berühmte Investor Seth Klarman sprach davon, wie wichtig es ist, zu investieren, wenn man über eine «Sicherheitsmarge» verfügt. Angesichts des gegenwärtigen Klimas glauben wir, dass Europa diese Sicherheitsmarge derzeit in ausreichendem Masse bietet. (abrdn/mc/ps)