von Patrick Gunti
Moneycab.com: Herr Färber, was sind «versteckte Mehrfamilienhäuser»?
Atilla Färber: Unter dem Begriff «verstecktes Mehrfamilienhaus» verstehen wir Raumpioniere ein Einfamilienhaus, das durch Umnutzung und Verdichtung zu einem Mehrfamilienhaus umgestaltet werden kann. In der Schweiz gibt es aktuell rund 1,1 Millionen Einfamilienhäuser, von denen circa 50 Prozent von gerade mal ein bis zwei Personen bewohnt werden. Das heisst, mit einer gezielten Verdichtung dieser Einfamilienhäuser könnten wir unseren Wohnraum effizienter nutzen. Ein typisches Beispiel wäre ein Einfamilienhaus auf einem Grundstück von 1200 m² an einer gut erschlossenen Lage. Dieses Haus könnte nicht nur zwei Personen Platz bieten, sondern in sechs Wohnungen bis zu 20 Personen. Unsere Mission zielt darauf ab, solche Potenziale nicht nur zu identifizieren, sondern auch zu realisieren – ein entscheidender Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung und Verdichtung des Wohnraums in der Schweiz.
Die Raumpioniere haben einen Rechner für die Analyse des Potenzials von Immobilien und «Bauen ohne Land» entwickelt. Welche Informationen lassen sich erheben?
Um «Bauen ohne Land» zu ermöglichen, muss das noch ungenutzte Potenzial einer bestehenden Immobilie erst erkannt und analysiert werden – am besten natürlich auf Knopfdruck, einfach, schnell und für jede und jeden im Land. Zu diesem Zweck haben wir einen Potenzialrechner gebaut, den wir laufend weiterentwickeln. Unser Tool ermöglicht die Erhebung und Auswertung verschiedener relevanter Informationen rund um die Verdichtungsmöglichkeiten von Liegenschaften. Unser Potenzialrechner zeigt das Verdichtungspotenzial in Prozent-, Kubik- und Quadratmeter-Angaben auf. Dazu können wir die relevanten Informationen zu den Bau- und Zonenordnungen der Gemeinden zur Verfügung stellen. Zudem berücksichtigen wir allfällige öffentliche Eigentumsbeschränkungen wie Ortsbildschutz, Baulinien oder Sondernutzungspläne. Und wir erkennen auch den Sanierungsdruck auf Basis des Gebäudealters, der letzten grösseren Renovationen, der Gebäudekategorie und der Bautätigkeit im Umfeld einer Liegenschaft.
«Unser Potenzialrechner zeigt das Verdichtungspotenzial in Prozent-, Kubik- und Quadratmeter-Angaben auf. Dazu können wir die relevanten Informationen zu den Bau- und Zonenordnungen der Gemeinden zur Verfügung stellen.»
Atilla Färber, CEO Raumpioniere AG
Erstelle ich für meine Immobilie in einer kommunalen Bauzone W2 eine Potenzialanalyse, erhalte ich einen Total-Score von 74 Prozent. Was bedeutet das nun?
Dieser Score bedeutet, dass Ihre Immobilie ein beachtliches Potenzial für eine Verdichtung und Umnutzung hat.
Und auf welchen Daten beruht diese Analyse?
Grundsätzlich nutzen wir sämtliche Daten aus öffentlich zugänglichen Quellen – wie beispielsweise Gebäude- und Wohnungsregister oder Swisstopo. Zudem lassen wir Baureglementsdaten, die wir nicht nur selbst digitalisiert, sondern auch permanent à jour halten, mit einfliessen. Alle diese Daten kombinieren wir dann mit Hilfe eines speziellen Algorithmus miteinander.
Die Potenzialanalyse ist kostenlos. Ab welchem Zeitpunkt und mit welchen Folgeangeboten verdienen die Raumpioniere Geld?
Wir wollen Verdichtung populär machen – und auch ganz konkret in der Praxis umsetzen, indem wir selbst Projekte entwickeln. Unser Potenzialrechner ist kostenlos. Als weiterführende und logische Folgeangebote bieten wir Machbarkeitsstudien und Experten-Checks an, berechnen die ökonomischen Eckpfeiler wie Kosten und Erträge und entwickeln sodann die Liegenschaft aus einer Hand. Bei Bedarf holen wir auch interessante und interessierte Investoren mit an Bord. Und schliesslich vermarkten wir die Projekte auch gleich selbst.
«Wir wollen Verdichtung populär machen – und auch ganz konkret in der Praxis umsetzen, indem wir selbst Projekte entwickeln.»
Rund zwei Drittel aller Gebäude mit Wohnnutzung sind in Privatbesitz. Sind diese Personen ihre hauptsächliche Zielgruppe?
Ganz konkret sprechen wir zwei Zielgruppen an: Einerseits Private, die das Potenzial ihrer Immobilie unter Berücksichtigung sämtlicher Einflussfaktoren kennen und auch ausnutzen wollen. Und andererseits Investoren, darunter viele Institutionelle, die ihr Immobilienportfolio optimieren müssen.
Wie viele der automatisierten Analysen wurden bisher durchgeführt und welche Anzahl Projekte konnten daraus initiiert werden?
Seit Januar 2023 haben wir 11’640 automatisierte Potenzialanalysen durchgeführt und dabei rund 3.4 Mio. m2 an potenzieller Nutzfläche identifiziert. Bei einem durchschnittlichen Flächenverbrauch von 44 m2 pro Person entspricht dies Lebensraum für rund 77’000 Menschen. Von den knapp 3000 Personen, die in dieser Zeit unsere automatisierte Analyse genutzt haben, hatten wir mit jedem zehnten Eigentümer einen intensiveren Austausch. Daraus wiederum sind bis heute ein Dutzend spannender Entwicklungsprojekte resultiert, dazu kommen noch eine Vielzahl von Experten-Checks und Machbarkeitsstudien.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen schränken die Verdichtung oft stark ein. Wie berücksichtigen Sie diese?
Die Einhaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen und die Zusammenarbeit mit Behörden sind fundamental wichtig. Ebenso ist das Recht auf Beschwerde ein wichtiges Element des demokratischen Prozesses. Wir setzen darauf, dass wir gemeinsam immer eine clevere Lösung finden können. Aus diesem Grund verfolgen wir bei unseren Projekten jeweils eine mehrstufige Herangehensweise: Zentral sind für uns eine offene, transparente Kommunikation, insbesondere der Einbezug von Nachbarinnen und Nachbarn. Ausserdem stehen wir für hohe Qualitätsstandards und eine grosse Nachhaltigkeit in unseren Projekten. Für eine zeitgemässe und sinnhafte Verdichtung müssen die Bedürfnisse der Bevölkerung und die Anforderungen an eine nachhaltige Entwicklung zwingend berücksichtigt werden.
Die Bevölkerung wächst nicht nur, die Wohnenden benötigen auch immer mehr Platz. Wie wirkt sich das aus und welche Alternativen lassen sich realisieren?
Wir arbeiten an Lösungen, um diesem Trend entgegenzuwirken. Dazu ein Beispiel: Wir beschäftigen uns gerade mit einem 70er-Jahre-Mehrfamilienhaus mit 18 Drei- und Vierzimmerwohnungen, die alle nicht mehr den heutigen Standards entsprechen. In diesem Projekt verfolgen wir den Ansatz der Verdichtung nach Innen. Aus den 18 „alten“ Wohnungen machen wir 25 „neue“ Wohnungen, die voll auf die zeitgemässen Bedürfnisse von Ein- und Zweipersonenhaushalten ausgelegt sind. Gleichzeitig bringen wir die gesamte Liegenschaft wieder in Schuss und machen sie energietechnisch und architektonisch fit für die nächsten 50 Jahre – und das ohne einen Ersatzneubau. Weiter schauen wir, dass wir in unseren Projekten gemeinschaftliche Räume und Einrichtungen schaffen, die den individuellen Bedarf an Wohnraum reduzieren. Das heisst, wir integrieren zum Beispiel ein Gästezimmer zur gemeinsamen Nutzung in ein Projekt oder eine Art Mini-Coworking für die Bewohnenden eines Hauses.
«In St. Gallen finden wir circa 21’000 Einfamilienhäuser mit Baujahr älter als 1980. Was einem Potenzial von rund 1.5 Mio m2 an zusätzlicher Wohnfläche oder in etwa 210 Fussballfeldern entspricht, beziehungsweise Platz für zusätzliche 34’000 Einwohner schaffen könnte.»
Viele, wenn nicht ein Grossteil der in den letzten 50 Jahren erstellten Einfamilienhäuser, verfügen noch über Baureserven. Lässt sich beziffern, um wieviel Nutzfläche es sich schweizweit handelt?
Wieviel Nutzfläche wir in der Schweiz haben, können wir nicht sagen – wir haben das gesamte Landesgebiet noch nicht analysiert. Aber wir wissen, dass wir in der Schweiz aktuell rund 2.6 Millionen Gebäude haben, davon werden circa 1.8 Millionen fürs Wohnen genutzt. Davon sind wiederum etwas mehr als 50 Prozent älter als 50 Jahre. Um aber das Potenzial anhand eines Beispiels abzuschätzen, haben wir uns den Kanton St. Gallen angeschaut: In St. Gallen finden wir circa 21’000 Einfamilienhäuser mit Baujahr älter als 1980. Was einem Potenzial von rund 1.5 Mio m2 an zusätzlicher Wohnfläche oder in etwa 210 Fussballfeldern entspricht, beziehungsweise Platz für zusätzliche 34’000 Einwohner schaffen könnte. Dabei berücksichtigt sind nur Parzellen, die durchschnittlich 850 m2 Fläche aufweisen und mit einem Einfamilienhaus bestückt sind.
Sie sind ja eigentlich Architekt. Wie kam es zur Entwicklung des Analyse-Tools und den nachfolgenden Dienstleistungen der Raumpioniere?
Unsere Vision war von allem Anfang an, modernste Software und Datenanalyse mit den bewährten Dienstleistungen eines klassischen Immobilienentwicklers zu kombinieren – und daraus dann ein neuartiges, wegweisendes Geschäftsmodell zu entwickeln. Entsprechend verstehen wir uns als neuartiger, Tech-getriebener Immobilienentwickler. Für uns war dabei früh klar, dass wir insbesondere in der Beschaffung und Akquisition von Projekten anders auftreten müssen. Wir haben auch früh erkannt, was die ganz grosse Veränderung in der Immobilienbranche sein wird: Verdichtung nach innen und Bestandesoptimierung. Die Idee mit dem Potenzialrechner, der so einfach funktioniert wie Google, war also unser Heureka-Moment.
Welche Bilanz ziehen Sie zum heutigen Zeitpunkt?
Wir sehen, dass unser Geschäftsmodell bestens funktioniert: Aktuell entwickeln wir zwölf Projekte mit knapp 149 Wohneinheiten – darunter sind auch grössere Projekte mit 20 bis 65 Wohneinheiten. Und weitere Entwicklungsprojekte stecken bereits in unserer Pipeline.