«Auch Wissenschaft ist kreativ»

«Auch Wissenschaft ist kreativ»
Wissenschaft und Kunst inspirieren sich: Nilima Chowdhury. (Bild Universität St. Gallen)

St. Gallen – Nilima Chowdhury ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Organisationspsychologie der Universität St. Gallen. Ihr Forschungsprojekt «Turn The Tide» erforscht Geschlechterungleichheit und psychisches Wohlergehen von Frauen am Arbeitsplatz. Neben ihrer akademischen Tätigkeit ist Nilima Chowdhury Musikerin. Wissenschaft und Kunst inspirieren sich.

«Serious singer or social scientist?» fragt die neuseeländische Zeitung Devonport Flagstaff in einem Interview mit Nilima Chowdhury. Nach ihrem Psychologiestudium in Berlin versuchte Nilima Chowdhury mehrere Jahre, sich als Singer-Songwriter zu etablieren. Mit Brotarbeit hielt sie sich über Wasser. Nach drei Jahren in Kanada kehrte Chowdhury nach Berlin zurück und nahm 2013 an der Castingshow «Voice of Germany» teil. Dort schaffte sie es bis in die Live-Shows, merkte aber, dass sie bei der Selbstvermarktung in der Musikindustrie nicht mehr mitspielen wollte: «Als Frau wird man in der Musikbranche mit sexistischen Sprüchen und Übergriffen konfrontiert. Niemand nimmt dich als eigenständige Künstlerin oder kreativen Kopf einer Band wahr», sagt Chowdhury.

Nach ihrem Auftritt in der Castingshow beschloss Nilima Chowdhury, sich der Wissenschaft zuzuwenden. Gemeinsam mit ihrem neuseeländischen Mann – einem Kunstmaler, den sie in Berlin kennengelernt hatte – zog sie 2014 nach Neuseeland.

Das System am Laufen halten
«The Make-it-work woman» – so lautet der Titel von Chowdhurys Doktorabeit, mit der sie 2019 an der University of Auckland promovierte. Die Arbeit untersucht, wie Frauen mit schwierigen Situationen und Depressionen am Arbeitsplatz umgehen. Die Untersuchungen zeigen auf, dass Frauen aus systemischen Problemen oft individuelle machen, indem sie die Schuld und Fehler bei sich selbst suchen. Das Ziel der Frauen sei meist, im neoliberalen System wieder zu funktionieren. Die Karrierestrategien, sich mit Perfektionismus, Unterdrückung bestimmter Gefühle wie Wut oder vermeintlicher Stärke an genderkonforme Anforderungen anzupassen, wirken sich gemäss Chowdhurys Forschungen negativ auf das psychische Wohlergehen der Frauen aus.

Sich gegen Naturgewalt stemmen
Seit Mitte 2020 lebt Chowdhury mit ihrer Familie wieder in Europa und forscht an der Universität St.Gallen für ihr Postdoc-Projekt «Turn The Tide». Dazu hat die Sozialwissenschaftlerin Unternehmen in Neuseeland und in der Schweiz zu Geschlechterungleichheit befragt. Ziel des Projekts ist es, mit Workshops und Coachings Veränderungsprozesse anzustossen. Die Verantwortung für Veränderung dürfe nicht nur den Frauen übertragen werden. Damit ein Kulturwandel geschieht, müssen Männer miteinbezogen werden. Chowdhury ist überzeugt, dass ein rein analytischer Ansatz scheitere, denn viele Geschlechtsnormen würden über tiefsitzende emotionale Muster gelebt. «Die noch unbewussten Gewohnheiten und Vorurteile müssen erst bewusst gemacht werden. Ich wende deshalb gerne unkonventionelle, kreative Methoden in meinen Workshops an, um eine Veränderung über Emotionen und den Körper zu bewirken.»

Führungskräfte müssen Veränderungen vorleben
Die Arbeitswelt ist nach wie vor von männlichen Prinzipien wie Hierarchie, Konkurrenzkampf oder Macht geprägt. «Weiblich konnotierte Werte wie Empathie, flachere Hierarchien oder Kollaboration müssen aufgewertet werden. Auch die Care-Arbeit, vorwiegend kostenlos von Frauen übernommen, wird in unserer Gesellschaft zu wenig wertgeschätzt.» Es braucht einen Organisationswandel, um weiblich konnotierte Qualitäten stärker wertzuschätzen. «Dabei haben Führungskräfte eine Vorbildrolle: Wenn Frauen und Männer in Führungsebenen ihr Verhalten ändern, indem sie Verletzlichkeit zeigen und Probleme oder Fehler zugeben, kann das einen Kulturwandel auslösen. Der Fokus liegt bei der Schulung von Führungskräften», so die Psychologin.

Wissenschaft und Kunst inspirieren sich
Neben der Forschung spielt die Musik weiterhin eine zentrale Rolle in Nilima Chowdhurys Leben. Für Chowdhury sind Wissenschaft und Kunst nicht zwei getrennte Sphären. Forschung und Musik inspirieren sich gegenseitig: «Allgemeine Lebenserfahrungen und Lebensfragen beeinflussen meine Forschung, das kann ich nicht trennen. Wissenschaft wende ich auf mein Leben an, zum Beispiel wenn es um einen bewussten Sprachgebrauch geht.» Erfahrungen aus der Musikbranche fliessen in ihre Arbeit als Genderforscherin ein, seien es kreative Erlebnisse oder auch Sexismus-Erfahrungen.

Das hybride Nebeneinander kennt Nilima Chowdhury nicht nur von Forschung und Musik: Aufgewachsen in Bonn mit einem indischen Vater und einer polnischen Mutter, hinterliess ihre Herkunft stets ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit und des Schwebens zwischen verschiedenen Welten. Das Hybride ziehe sich auch durch ihren Musikstil, stellt sie schmunzelnd fest. Ihr Gesang und das Gitarren- und Klavierspiel seien von Klassik und Jazz, aber auch von orientalischer und südamerikanischer Musik beeinflusst. Ihre Lieder bezeichnet sie als «melancholische Balladen», sie mag sich aber ungern auf einen Stil festlegen.

Forschung und Musik miteinander zu vereinbaren sei nicht immer einfach. Immer noch herrsche die Vorstellung vor, dass erst der kommerzielle Erfolg eine Tätigkeit legitimiere und Professionalität mit einer hundertprozentigen Tätigkeit verbunden sein müsse. «Für mich ergänzen sich Wissenschaft und Kunst. Auch Forschung ist ein kreativer Prozess, getrieben von Neugier.»

Die Antwort auf eingangs gestellte Frage lautet für Nilima Chowdhury also: «Serious singer and social scientist»! (Universität St. Gallen/mc/ps)

Text: Sabrina Rohner

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