Mit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine war die vergangene Woche an den Finanzmärkten besonders turbulent. Die russische Börse verzeichnet ein neues historisches Tief mit einem Absturz von 45% an einem einzigen Tag – das gab es noch nie zuvor. Wir erlebten in dieser Woche eine Neuauflage der Geschichte vor 60 Jahren, als die Amerikaner 1961 versuchten, das Regime von Fidel Castro auf Kuba zu stürzen, da sie die Vorstellung von russischen Stützpunkten in einer Entfernung von weniger als 200 Kilometern von Florida nicht akzeptieren wollten.
von Karine Patron, Vermögensverwalterin Banque Bonhôte & Cie SA
Geschehen und Stimmung in der vergangenen Börsenwoche lassen sich deutlich in zwei Phasen einteilen: In einer ersten Phase gerieten die Börsen aufgrund der überraschenden Invasion und der Ungewissheiten in Zusammenhang mit der Reaktion des Westens bis am Donnerstag zu Beginn der Börsensitzung stark unter Druck. Als in der Folge die ersten Sanktionen angekündigt wurden, die insgesamt weniger hart als erwartet ausfielen, drehte der Markt nach oben und die USA verzeichneten ausgehend vom Tiefststand am Donnerstag eine Rally von über 6,5%. Da die westlichen Regierungen beschlossen, dass es keine militärische Intervention geben würde, wurden die Sanktionen zur einzigen Messlatte, an der die Auswirkungen der Ereignisse auf die Wirtschaft gemessen werden konnten.
Wir sind der Ansicht, dass ungeachtet der Bescheidenheit, die uns in diesem Zusammenhang mit den Vorhersagen in Bezug auf die weitere geopolitische Entwicklung angemessen erscheint, die Dinge auseinandergehalten werden müssen. So gibt es einerseits die Rhetorik der einzelnen Staaten, die sich zu positionieren versuchen, und andererseits die Interessen dieser Staaten und die Beobachtung der Marktindikatoren.
Die langfristigen Renditen haben sich sowohl in den USA als auch in Europa praktisch nicht verändert, und dasselbe gilt für die Hochzinsanleihen. An den Devisenmärkten verharrten die Schwankungen zwischen Euro und Dollar in den Bandbreiten der vergangenen Monate. Allein die Volatilität an den Aktienmärkten hat zugenommen, was unter diesen Umständen völlig normal ist. Die westlichen Länder haben versucht, ihren eigenen Interessen bei den auferlegten Sanktionen so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Daher wurden die russischen Gas- und Erdölexporte bis jetzt nicht ins Visier genommen.
Die Auswirkungen der Sanktionen auf das russische Finanzsystem und die Einschränkungen, die der russischen Zentralbank hinsichtlich ihres Handlungsspielraums auferlegt werden, sind der heikelste Punkt dieser Massnahmen. Die russische Zentralbank könnte bei der Verteidigung des lokalen Finanzsystems teilweise behindert werden, was sich auf die russischen Ersparnisse auswirken würde. Heute Morgen hat die russische Zentralbank ihren Leitzins von 9,5% auf 20% angehoben, um dem Zerfall des Rubels entgegenzuwirken und Abhebungen der Sparer zu verhindern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Beobachtung der wichtigsten Marktindikatoren, d.h. der Zinssätze der westlichen Regierungen, derzeit keinen besonderen Stress erkennen lässt. Wir glauben, dass die Sanktionen, die de facto beide Seiten beeinträchtigen, die Parteien an den Verhandlungstisch zurückbringen werden, denn wie Charles de Gaule sagte: Staaten haben keine Freunde, sie haben nur Interessen. (Bonhôte/mc)