Bilanzen westlicher und russischer Kriegsführung: Ein beklemmender Vergleich und ein möglicher westlicher Sieg in Afghanistan
2014 setzen die Kriegshorden des Islamischen Staates zum Angriff auf irakische Städte an. Sie treiben die reguläre irakische Armee vor sich her, doch auf einmal stossen sie auf einen neuen Gegner. Bärtige Männer mit amerikanischer Kriegsausrüstung werfen sich ihnen entgegen. Es sind ehemalige Taliban und Nordallianz-Kämpfer. Von Amerika als Söldner angeheuert, jagen die kampferprobten Afghanen im Verbund mit der regulären irakischen Armee und amerikanischer Luftunterstützung den IS nicht nur nach Syrien zurück. Sie kehren im dortigen Bürgerkrieg die Kräfteverhältnisse zu Gunsten ihrer amerikanischen Geldgeber.
Von Dr. Fritz Kälin
Wie kam es dazu? Ein Jahr nach dem Einmarsch in Afghanistan sicherte Washington auch den paschtunischen Taliban Regierungsbeteiligung, Macht und Waffen zu, wenn sie dafür mithalfen, die Al Kaida in Afghanistan endgültig auszurotten. Im Erfolgsfall versprachen die USA den Abzug aller westlichen Truppen aus Afghanistan, und Fortsetzung westlicher Investitionen ins Land. 2011 war es so weit. Es gab in Afghanistan keine Terroristen mehr zu jagen, keine westlichen Besatzungstruppen, und die verschiedenen Ethnien und Fraktionen Afghanistans hatten untereinander zu einem neuen modus vivendi gefunden. Statt sich erneut gegenseitig zu bekriegen, machten die Afghanen aus ihrer leidvollen Kriegserfahrung ein Geschäftsmodell: sie wurden zu den begehrtesten Söldnern der westlichen Welt, wie Jahrhunderte zuvor die Eidgenossen. Solddienstverträge koppeln die Afghanen an vorteilhafte Handelsverträge und Investitionen in den Wiederaufbau ihres Landes. 2021 gibt es in Afghanistan zwar noch keine Zivilgesellschaft nach westlichen Massstäben, aber zumindest keinen Krieg, keine Unterernährung, und eine stetig steigende Schulquote. Denn für ihr internationales Geschäftsmodell müssen die Afghanen nebst dem Koran und Waffen auch Englisch beherrschen.
Russlands Kriegsbilanzen
All das hat sich natürlich nie so zugetragen. Zumindest nicht in Afghanistan. Am 8. August 2008 lancierte Georgien eine Militäroffensive auf seine beiden abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien. Russlands Armee griff aber viel rascher auf Seiten der beiden Provinzen in den Krieg ein, als es Georgien antizipiert hatte. Und eines der Spitzenbataillone der russischen Dampfwalze bestand aus Tschetschenen. Wer hätte es 1998 für möglich gehalten, dass Tschetschenen zehn Jahre später für Moskau gegen Dritte in einen Krieg ziehen?
1996 mussten sich Russlands Streitkräfte nach zwei Kriegsjahren geschlagen und gedemütigt aus Tschetschenien zurückziehen. 1999 entsandte der neue russische Ministerpräsident Wladimir Putin die Armee erneut nach Tschetschenien. Diesmal gingen die Russen noch gnadenloser vor als im ersten Krieg. Die russische Journalistin Anna Politkowskaja interviewte damals auf ihren undercover-Recherchereisen in Tschetschenien die Menschen vor Ort. Politkowskajas Bücher dokumentierten nicht bloss, dass Moskau in der Provinz Staatsterror praktizierte (2006 wurde sie in Moskau ermordet). Was mir als junger Mann bei der Lektüre ihrer Bücher auffiel, war die Wirkung des Terrors auf die Menschen.
Die Tschetschenen galten gleich den Afghanen als ein unbeugsames kriegerisches Bergvolk. Doch der Wille der breiten Bevölkerung wurde gebrochen. Den grössten Anteil daran hatten nicht die massiven Bombardierungen. Die Menschen fürchteten vor allem folgende Methode: Maskierte Männer fuhren nachts in Panzerfahrzeugen ohne Kennzeichnen vor, drangen in Häuser ein und entführten Menschen. Manche Entführte tauchten Monate später enthauptet an einem Strassengraben wieder auf, andere blieben für immer verschwunden.
Wer dieses Schicksal vermeiden wollte, dem bot Moskau nebst der «Peitsche» ein «Zuckerbrot» an: Wer sich in den Dienst des Kremls stellte, erhielt Waffen, Geld, Macht und Straffreiheit. Wer hingegen weiter Widerstand leistete, wurde (auch im ausländischen Exil) gnadenlos gejagt. Die islamistischen Rebellen versuchten wie in den 1990er-Jahren eine Kriegswende mit spektakulären Terrorangriffen in Russland zu erzwingen. Doch diesmal liess sich der Kreml nie auf Verhandlungen mit den Terroristen ein. Demonstrativ nahm er dafür den Tod von eigenen Bürgern in Kauf. Und sowohl innenpolitisch als auch international konnte sich Russland im Fahrwasser von 9/11 als legitimer Kämpfer gegen den islamistischen Terrorismus präsentieren. Bis 2009 war der bewaffnete Widerstand in Tschetschenien so weit gebrochen, dass Russland 20’000 Soldaten abziehen und die Aufstandsbekämpfung ihren tschetschenischen Handlangern überlassen konnte.
Wofür Kriege führen?
1999 waren die Russen aus demselben Motiv in Tschetschenien eingefallen, mit dem die Amerikaner nach 9/11 die westliche Staatengemeinschaft nach Afghanistan hineingezogen hatten: Rache. Aber die westlichen Soldaten erhielten viele einschränkende Einsatzrichtlinien und unklare oder widersprüchliche Kriegsziele. 2021 waren die Afghanen nicht länger bereit, zur Deckung des westlichen Abzugs als Kanonenfutter gegen die Taliban herzuhalten. Moskau verfolgte seine begrenzten Ziele im Kaukasus erbarmungslos, bis die Tschetschenen die territoriale Integrität Russlands nicht mehr in Frage stellen konnten. Seither waren Moskaus militärische Muskeln wieder frei für Kraftproben ausserhalb seiner Grenzen.
Mit Russlands Waffenhilfe konnten sich die abtrünnigen Provinzen Georgiens, Baschar al-Assads in Syrien und die prorussischen Rebellen im ostukrainischen Donbass behaupten. Die USA lassen derweil ihre afghanischen Verbündeten genauso im Stich wie wenige Jahre zuvor die syrischen Kurden und Jahrzehnte zuvor die Südvietnamesen. Experten reden unseren Wohlstandsgesellschaften ein, dass moderne Kriege durch Drohnen, Cyber, künstliche Intelligenz etc. entschieden werden. Aber ohne gesellschaftliche Opferbereitschaft wird der Westen auch mit dieser High Tech keine Kriege gewinnen. Und eines Tages könnte ein Krieg ausbrechen, den der Westen nicht mehr auf Kosten von Dritten verlieren kann.
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