Zürich – Welchen Effekt hat das Artensterben auf die Evolution der überlebenden Arten? Diese Frage haben Evolutionsbiologen der Universität Zürich anhand eines Feldexperiments mit Gallfliegen und ihren Raubparasiten untersucht. Es zeigte sich, dass der Verlust von natürlichen Feinden die Anpassung an zukünftige Umweltveränderungen erschweren könnte.
Nach Ansicht vieler Experten befindet sich die Erde am Anfang eines sechsten Massenaussterbens, was schon jetzt verheerende Auswirkungen auf die Funktion von natürlichen Ökosystemen hat. Noch ist allerdings unklar, welchen Einfluss dieses Artensterben auf die zukünftige Anpassungsfähigkeit der überlebenden Arten hat.
Forschende der Universität Zürich sind dieser Frage mit einem Feldexperiment in Kalifornien nachgegangen. Sie untersuchten, wie sich die Merkmale einer winzigen Fliege änderten, wenn eine Gruppe ihrer natürlichen Feinde entfernt wurde. Aus ihren Beobachtungen zogen sie Rückschlüsse auf Veränderungen in der genetischen Vielfalt der Fliegen.
Räuberische Parasiten gezielt ausschalten
Die Fliege Iteomyia salicisverruca lebt auf Weidenblättern in zahnförmige Wucherungen, sogenannten Gallen, die sie im Larvenstadium bildet. Zu den natürlichen Feinden der Fliege gehören mehrere Arten von Schlupfwespen. Diese legen ihre Eier in die Fliegenlarven ab, wo sie als Raubparasiten ihre Entwicklung durchlaufen. Bevor die ausgewachsene Wespe die Galle verlässt, frisst sie ihren Wirt, die Fliege, auf.
Einige Schlupfwespen-Arten greifen die Fliegenlarven an, bevor diese Gallen gebildet haben, andere parasitieren die Larven erst später in der Entwicklung und dringen dazu von aussen in die Galle ein. Diese letztere Gruppe von natürlichen Feinden schalteten die Forschenden gezielt aus. Dazu befestigten sie, noch bevor der Angriff erfolgte, feine Netze über den Blättern mit Gallen.
Nach drei Monaten sammelten die Evolutionsbiologen etwa 600 Gallen ein und schauten nach, ob die darin enthaltenen Fliegenlarven überlebt hatten. Ausserdem massen sie drei Merkmale, die das Überleben der Fliegen bei einem Angriff durch Raubparasiten beeinflussen: die Grösse der Galle, die Anzahl der Fliegen innerhalb einer Galle und die Vorliebe der Fliege, ihre Gallen auf Weidenbäumen mit bestimmten genetischen Eigenschaften zu bilden. Aus den Ergebnissen modellierten sie am Computer sogenannte Fitness-Landschaften, die die Anpassungsfähigkeit einer Art visuell darstellen.
Weniger Feinde, weniger Variabilität
Es stellte sich heraus, dass – wenn alle natürlichen Feinde vorhanden waren – unterschiedliche Kombinationen dieser drei Merkmale zum Überleben der Fliege beitrugen. «Es gibt also mehrere gleich gute Lösungen, die das Überleben der Fliege sichern», sagt Studien-Erstautor Matthew Barbour. Wenn jedoch ein Teil der natürlichen Feinde fehlte, überlebte die Fliege nur mit einer ganz bestimmten Kombination der drei Merkmale. «Dies legt nahe, dass das Aussterben der natürlichen Feinde die Evolution der Fliege in Richtung einer einzigen optimalen Lösung einschränkt.» Genetischen Variationen, die zu einer anderen Ausbildung der Merkmale führen, könnten im Erbgut der Fliegen so dauerhaft verloren gehen.
Dieser Verlust an Vielfalt könnte Konsequenzen haben: «Eine Vielzahl möglicher Überlebenslösungen dient dazu, die genetische Variabilität für die Merkmale der Gallen zu erhalten», so Barbour. Und weil genetische Variation das Rohmaterial für die Evolution liefert, könnte das Wegfallen von natürlichen Feinden die Anpassung der Gallfliegen an künftige Umweltveränderungen erschweren.
«Insgesamt deutet unsere Studie auf einen heimtückischen Nebeneffekt des Artensterbens hin», sagt Barbour. «Das Aussterben von natürlichen Feinden könnte die Fähigkeit der überlebenden Arten beeinträchtigen, sich einer sich wandelnden Welt anzupassen und darin weiterzubestehen.» Ökosysteme wären dann viel stärker gefährdet, als derzeit angenommen. (Universität Zürich/mc/ps)
Literatur:
Matthew A. Barbour, Christopher J. Greyson-Gaito, Arezoo Sotoodeh, Brendan Locke, and Jordi Bascompte. Loss of consumers constrains phenotypic evolution in the resulting food web. Evolution Letters. 20 April, 2020. DOI: 10.1002/evl3.170
Universität Zürich