Interview: Noëmi Kern, Universität Basel
Im Alltag grenzen wir uns mehr oder weniger stark von unseren Mitmenschen ab. Wie das die eigene Identität stärkt, erklärt der Entwicklungspsychologe Alexander Grob.
Je genauer und je deutlicher sich eine Person in Übereinstimmung mit ihren eigenen Empfindungen mitteilt und je feinfühliger das Gegenüber auf die Signale dieser Person eingeht, desto förderlicher ist die Begegnung der beiden Personen für die Entwicklung. Dabei ist es zentral, dass die beiden Beteiligten den Unterschied – also die Grenze – zwischen sich und dem Gegenüber erkennen und respektieren. Überschreitet eine Partei die Grenze und bestimmt, wie das Gegenüber eine Empfindung oder einen Sachverhalt wahrzunehmen hat, erlebt dies die davon betroffene Person als Bedrohung ihrer Integrität und mitunter als Übergriff.
Die gesunde Reaktion ist es dann, dass sich das bedrohte Individuum verschliesst und dadurch eine Grenzlinie markiert. Im Alltagserleben sind offene Grenzen angenehmer als geschlossene. Allerdings können beide Formen die persönliche Entwicklung befördern und sind gleichermassen Bestandteil der Identitätsentwicklung.
UNI NOVA: Was versteht man unter Grenzen im Bereich der Psychologie?
Alexander Grob: «Grenze» wird in der Psychologie als mentale Abgrenzung zwischen zwei Personen oder zwischen verschiedenen Gruppen verstanden. Grenzen fördern die Selbsterkenntnis und bilden die Grundlage der Identität. Eigene Meinungen und Wertvorstellungen zu entwickeln und diese in Absetzung zu oder in Übereinstimmung mit anderen Personen zu erproben und gegebenenfalls auszudifferenzieren, sind Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung. In der Psychologie gibt es viele Belege dafür, dass Gruppen und Individuen über die Zeit eigene Normsysteme kreieren und diese weiter differenzieren. Die von Gruppen entwickelten Normen dienen den Mitgliedern dazu, sich von anderen Gruppen abzugrenzen. Dadurch verstärkt sich die Identität der eigenen Gruppe. In dieses System muss sich eine Person einfügen, wenn sie zu einer bestimmten Gruppe gehören will.
Warum ist es wichtig, sich gegenüber anderen abzugrenzen?
Grenzen setzen bedeutet, zu signalisieren: «Bis hierher und nicht weiter. Dann beginnt mein höchst eigener Bereich, in dem ich Chefin oder Chef bin. Du hast hier nichts verloren.» Wenn eine Person diese Grenzen nicht setzt oder nicht setzen kann, besteht die Gefahr, dass sie überrannt, nicht gehört und zum Spielball anderer wird. Dann entsteht bei dieser Person das Gefühl: «Was ich denke und sage, ist für andere nicht wichtig. Man hört nicht auf mich. Egal, was ich mache, andere bestimmen über mich.»
Inwiefern unterstützen Grenzen die Identitätsbildung?
Besonders im Jugend- und im jungen Erwachsenenalter geht es darum, zu erkunden, wer man im Zusammensein mit anderen Personen, aber auch ohne diese ist – dazu gehören Eltern, Partnerin und Partner, Freundinnen und Freunde, Lehrkräfte, Vorgesetzte etc. Es geht dabei um eine Feinjustierung: Einerseits stellt sich die Frage nach den Erwartungen, die das Gegenüber an einen stellt, ob man diesen genügen kann und will oder ob man sich davon absetzt. Andererseits geht es darum, zu erfahren, inwiefern das Erfüllen der Erwartungen dem eigenen Lebensentwurf ent- oder widerspricht. Wenn man keine Grenzen setzt, sind die Prozesse der eigenen Identitätsentwicklung erschwert.
Warum bergen Grenzen gerade zwischen Jugendlichen und ihren Eltern Konfliktpotenzial?
Eltern sind vielfach in der Situation, dass sie ihre jugendlichen Kinder «überrennen», so wie auch vielfach Kinder ihre Eltern «überrennen». Auf Seiten der Eltern ist dies oft Ausdruck einer manchmal übertriebenen Sorge um das Kind.
Wenn Eltern beispielsweise nicht wissen, wo und mit wem ihr Kind die Freizeit verbringt, oder wenn es nicht um die vereinbarte Zeit nach Hause kommt und dann erst noch grusslos in seinem Zimmer verschwindet, dann wächst ihre Beunruhigung. Am nächsten Tag fragen sie intensiv nach und wollen Details erfahren. Gleichzeitig verstummen die Kinder: «Du kannst mich mal; ich bin bald 16 und darf ausgehen, mit wem und wie lange ich will.» Um die Eltern zu beruhigen, erfinden Jugendliche in diesen Situationen vielfach Unwahrheiten oder machen unhaltbare Versprechungen für die Zukunft. Im Kern bleibt: Beide Seiten haben in diesem Beispiel die Grenze des anderen nicht respektiert. Die Systeme drohen sich aufzuschaukeln.
Gehört das einfach zum Prozess der Loslösung oder ginge es auch anders?
Das eben genannte Beispiel macht deutlich, dass Jugendliche Grenzen brauchen. Aber ebenso brauchen Eltern und überhaupt Menschen in sozialen Verbünden Grenzen. Es gilt, eine neue Balance zwischen Eltern und Kindern zu finden.
Dabei geht es um den Respekt, das Gegenüber als Person mit eigenen Bedürfnissen wahrzunehmen, die Verantwortung für die eigene Autonomie übernimmt. Eltern sollten erkennen und darüber sprechen, dass der Grund der Grenzüberschreitung ihre Angst um das Kind ist. Also: «Ich möchte wissen, wo und mit wem du unterwegs warst, weil ich so besorgt bin. Es ist mir klar, dass dies meine Angst ist.» Der oder die Jugendliche will sich hingegen ganz alleine in neuen Räumen ausprobieren und dies nicht mit den Eltern teilen.
Wenn die Angst auf Seiten der Eltern und der Wunsch nach Loslösung auf Seiten des Kindes adressiert sind, erfolgt eine neue Art der Begegnung. Dann ist es nicht mehr nötig, die Grenze zu markieren. Vielmehr geht es dann darum, das Gegenüber an der persönlichen Erfahrung teilhaben zu lassen und sich darüber auszutauschen, wo der eigene Verantwortungsbereich und derjenige des Gegenübers liegt. (Universität Basel/mc/ps)
Weitere Artikel in dieser Ausgabe von UNI NOVA (November 2023).
Alexander Grob
ist Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie. Seine Forschungsinteressen gelten unter anderem der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie der Persönlichkeitsentwicklung über die Lebensspanne.