Noch Anfang August stand in der sogenannten Sonntagsfrage die SPD bei 16%, die Union bei 28%, klare Verhältnisse. Seitdem hat sich einiges getan. Vor allem Afghanistan, aber auch der Eindruck, der vom Unionskandidaten im Flutkatastrophengebiet zurückgeblieben ist, haben die Umfragewerte auf links gedreht. Stand heute liegt bei den meisten Instituten die SPD bei 25-26%, die CDU/CSU deutlich zurück bei 20-21%, und Baerbocks Grüne mit 16-17% noch einmal ein Stück dahinter. Sollte das Wahlergebnis am nächsten Sonntagabend ähnlich ausfallen, dürfte die Verwirrung komplett sein. Denn dann stellt sich zunächst die Frage, ob es, rein theoretisch, für eine erneute GroKo reichen würde.
Obwohl in beiden Lagern sicher nicht die beliebteste Option, könnte diese Variante erneut als Notlösung gebraucht werden, falls andere Koalitionsversuche scheitern. Addiert man die derzeitigen Umfragewerte von SPD und Union, landet man bei 45-47%. Angesichts der Tatsache, dass einige der «sonstigen» Parteien an der 5%-Hürde scheitern werden, könnte eine hauchdünne Mehrheit in dieser Grössenordnung zur Regierungsbildung genügen. Wahrscheinlicher ist aus heutiger Sicht aber ein Dreierbündnis, das erste auf Bundesebene überhaupt.
Fragt man die Wähler, gibt es aber hierbei keine wirklich beliebte Kombination. Die am wenigsten unbeliebte, der 37% zustimmen bei 39% Ablehnung, ist die sogenannte Ampel, also eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP. Realistisch erscheint hieran, dass die SPD für den Fall, dass sie am 26. September wirklich vorn liegt, wohl als erste zu Sondierungsgesprächen einladen dürfte. Gut möglich aber, dass die Liberalen den Preis für den Eintritt in diese Koalition derart hoch hängen (indem sie etwa das Finanzministerium und eine restriktivere Fiskalpolitik nebst Verzicht auf Steuererhöhungen fordern), dass weder der sozialdemokratischen noch der grünen Wählerbasis ein derartiger Koalitionsvertrag vermittelbar wäre.
Ein Wahlsieger Olaf Scholz könnte sich dann genötigt sehen, eine Koalition mit der Linkspartei in Erwägung zu ziehen, die allerdings nur ein gutes Viertel der Wähler (27% bei 56% Ablehnung) für attraktiv halten, der schlechteste Wert unter allen denkbaren Varianten. In dieser Zwickmühle dürften dann in der Zwischenzeit (wir reden hier über monatelange Verhandlungen) längst Hintergrundgespräche für eine unionsgeführte Koalition stattgefunden haben.
Hierfür wäre erstens erforderlich, dass, möglicherweise in Bayern oder im Sauerland, ein neuer Kanzlerkandidat gefunden würde und dass es Union und FDP zweitens gelingt, für einen derartig wiederbelebten Jamaika-Plot die Grünen auf ihre Seite zu ziehen. Hier wären grosse Zugeständnisse nötig, etwa in Form eines Klimaministeriums mit Vetorecht bei vielen Staatsausgaben, eventuell doch noch das Finanzministerium für Robert Habeck oder das prestigeträchtige Amt des Bundespräsidenten, etwa für Katrin Göring-Eckardt.
Laut nachgedacht wird über derartige Winkelzüge längst, vor allem auf Seiten der FDP, deren Vorsitzender jüngst an 1976 erinnerte, als Helmut Kohl für die CDU/CSU zwar die meisten Stimmen holte, dennoch aber nicht an der SPD/FDP-Koalition von Kanzler Schmidt vorbeikam. Für Olaf Scholz, das Kanzleramt vor Augen, gerät das Gedankenspiel Jamaika somit zum Fluch der Karibik.
Marktrisiken werden konkreter
Dies alles interessiert Marktteilnehmer vor allem, soweit sie sich für Politik interessieren. Denn nur im Fall einer rot-rot-grünen Bundesregierung, deren Bildung sich schon am Wahltag klar abzeichnet, würden die Märkte wohl bereits in der kurzen Frist spürbar negativ reagieren. Konkreter erscheint dagegen die Gefahr eines Government Shutdown in den USA, wo in dieser Woche die Haushaltsverhandlungen nach der Sommerpause wieder Fahrt aufnehmen. Auch wenn es am Ende wie bisher immer einen Deal geben dürfte, kann sehr wohl das Gespenst einer Zahlungsunfähigkeit des grössten Schuldners der Welt für eine Weile durch die Märkte spuken.
Ebenso konkret, wenngleich noch weniger transparent, ist die bereits feststehende Zahlungsunfähigkeit beim zweitgrössten chinesischen Baukonzern Evergrande. Auch wenn ein «Lehman-Moment» für den chinesischen Immobilienmarkt seitens Zentralbank und Regierung abgewendet werden kann, dürfte das dahinterstehende Geschäftsmodell, nämlich Kredite und Rechnungen mit dem Verkauf immer neuer Wohnungen zu bezahlen, in Zukunft nicht mehr so reibungslos funktionieren. Der jahrelang bewährten Strategie des chinesischen Wachstumswunders, einem Stop-and-go mit Investitionen in Immobilien und Infrastruktur, würde damit ein hochwirksames Instrument genommen.
Bleibt der Blick auf die Fed-Sitzung am Mittwoch. Zum ersten Mal werden Prognosen für 2024 vorgelegt, und wieder wird es vor allem um die Frage gehen, ob der gegenwärtig zu beobachtende Inflationsanstieg wirklich nur temporär ist. Ändern nur zwei FOMC-Mitglieder ihre in den «Dots» dargestellten Zinserwartungen, rutscht der Lift-off, also der Moment der ersten Zinsanhebung, vor ins Jahr 2022. Fed-Chairman Jerome Powell, der vielleicht nur noch wenige Monate im Amt ist, dürfte es daher vor allem darauf ankommen, noch einmal die unterschiedlichen Bedingungen für Tapering und Lift-off klarzustellen. (BlackRock/mc/pg)