Geht man nach dem ‚Dot Plot‘, in dem die geldpolitischen Vorstellungen der Fed-Gouverneure grafisch dargestellt werden, erfolgt der Lift-off, also das Abheben der US-Zentralbankzinsen vom gegenwärtigen Nullniveau, erst nach Ende 2023, mehr als zweieinhalb Jahre von heute. Im Gegensatz dazu suggerieren die Preise der Fed Funds Futures, dass Marktteilnehmer die ersten Zinsanhebungen mehrheitlich bereits wesentlich früher erwarten, nämlich ab Ende 2022.
Diese Verschiebung zwischen Markterwartungen einerseits und offizieller Zentralbankkommunikation andererseits um ein volles Jahr ergibt sich aus der Besonderheit der Situation, vor allem der aussergewöhnlichen Entwicklung der Volkswirtschaft im Zeichen der Covid-Pandemie. So dürfte sich ein Teil der Markterwartung dadurch erklären, dass der zu erwartende Reflationsschub, also deutlich höhere Wachstumsraten in Kombination mit kräftig anziehender Inflation, in der Lesart eines typischen Makrozyklus‘ unweigerlich zu einem energischen Einbremsen der Zentralbank führen müsse. Diese Interpretation vernachlässigt allerdings, dass es sich beim Herausbeschleunigen aus der Covid-Krise eben nicht um einen klassischen zyklischen Aufschwung handelt, sondern gewissermassen um einen Neustart auf Knopfdruck.
Genauso abrupt wie die ökonomische Aktivität durch Lockdowns zum Erliegen gebracht wurde, wird sie auch wieder gestartet, und somit ist der boomartige Sprung von Wachstums- und Inflationszahlen einem aussergewöhnlichen Phänomen zuzuschreiben und nicht notwendigerweise auf die entsprechende Zentralbankreaktion nach klassischem Muster übertragbar. Zum zweiten scheinen Marktteilnehmer, die eine schnellere Straffung der Geldpolitik erwarten, den 2020 beschlossenen Strategiewechsel der Fed nicht wirklich ernst zu nehmen. Anlässlich der Zentralbankerkonferenz in Jackson Hole hatte Fed-Chairman Jerome Powell im letzten August angekündigt, der Inflation künftig weniger Gewicht zu geben als einem möglichst hohen Beschäftigungsstand, ausserdem sollte dem Preisniveau die Gelegenheit gegeben werden, die lange Jahre unterschrittene Zielmarke von 2% zunächst einmal zu erreichen, bevor man aktiv werden wolle. Seitdem ist diese Ankündigung mehrfach untermauert worden, dennoch zeigen die Futures-Preise einen Mangel an Überzeugung auf Seiten der Marktteilnehmer.
Verständlich wird der Zweifel an der standfesten Lockerheit von Zentralbanken wie Fed und EZB, wenn man auf andere G7-Zentralbanken wie die Bank of Canada und die Bank of England schaut. Diese haben nämlich bereits Fakten geschaffen. Den Stein ins Rollen gebracht hatte die Bank of Canada, die schon im Herbst 2020 eine Reduktion der wöchentlichen Anleihekäufe von fünf auf vier Milliarden kanadische Dollar beschlossen hatte und dieser Massnahme nun im April einen weiteren Schritt von vier auf drei Milliarden folgen liess. Interessant ist, dass die Bank of Canada sich noch im Herbst bemüht hatte klarzustellen, dass die Verlangsamung der Anleihekäufe keinesfalls als ‚Tapering‘ zu verstehen sei, inzwischen aber davon abgerückt ist und im April ganz selbstverständlich von Tapering sprach.
Ähnliches könnte man nun bei der Bank of England vermuten, die in der vergangenen Woche eine Reduktion der Anleihekäufe von 4,4 Mrd. auf 3,4 Mrd. Pfund (GBP) ankündigte, aber wortreich darlegte, dass dies keinesfalls Tapering sei. Der Respekt der Zentralbanker vor dem Tapering-Begriff ist gut verständlich, hatte doch seine erstmalige Verwendung durch den damaligen Fed-Chairman Bernanke im Frühjahr 2013 Schockwellen durch die Zinsmärkte, vor allem in den Schwellenländern, geschickt (das sogenannte ‚Taper Tantrum‘). Nur zu gut nachvollziehbar, dass die Zentralbanken im gegenwärtigen Marktumfeld alles tun wollen, um eine Wiederholung dieses Taper Tantrum zu vermeiden. Insofern wird es im Juni spannend, wenn sowohl von Fed als auch EZB neue Orientierungspunkte in Bezug auf ihre Anleihekaufprogramme erwartet werden.
Wo ist die SPD, und wer will das wissen?
Am Wochenende wählte ein virtueller SPD-Parteitag Olaf Scholz mit 96% Mehrheit zum Kanzlerkandidaten. Was immer eine Selbstverständlichkeit war, nämlich dass die SPD angesichts ihres Charakters als Volkspartei einen Kanzlerkandidaten braucht, gerät angesichts aktueller Umfragewerte von 14-16% zur berechtigten Frage. Kann gerade Scholz so etwas wie Begeisterung auslösen? Genügt der stete Hinweis auf seine Regierungserfahrung, um die SPD aus dem Tief zu führen? Angesichts des Hypes um die Grünen und ihre Kandidatin sowie der munter weiterlaufenden Schlammschlacht in der CDU/CSU dürfte es für Scholz schwierig werden, Aufmerksamkeit zu gewinnen, um so etwas wie Aufbruchstimmung zu erzeugen. Ganz unwichtig ist die SPD aber dennoch nicht. Denn extrapoliert man die gegenwärtigen Umfragewerte bis September, könnte es bei einer schon geringfügig verbesserten SPD (und natürlich unter der Voraussetzung, dass die Grünen sich an ihrem Umfragehoch halten können) für Grün-Rot-Rot reichen. Und ob das passiert, ist aus Kapitalmarktsicht alles andere als irrelevant.