BlackRock Markausblick: Neue Chance für Europa?
Von Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Die Wahlen zum polnischen Unterhaus Sejm waren von vielen als wichtigste Wahl in Europa in diesem Jahr bezeichnet worden. Vielleicht zu recht. Denn weitere vier Jahre Regierung der nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hätten möglicherweise irreparable Schäden am polnischen Verfassungsapparat, aber auch am Verhältnis zur EU bedeutet.
Insofern mag es viele erleichtern, dass am vergangenen Sonntag PiS mit rund 36,8% der Stimmen etwa sieben Prozentpunkte weniger erreichte als bei der letzten Wahl und Herausforderer Donald Tusk, der von 2007-2014 schon einmal polnischer Ministerpräsident war, mit seiner „Bürgerkoalition“ rund 31,6% gewann und damit den Abstand zu PiS aus den letzten Meinungsumfragen halbieren konnte. Zusammen mit dem liberal-konservativen „Dritten Weg“ (ca. 13%) und der Linkspartei (ca. 8,6%), die beide bereits ihre Koalitionsbereitschaft mit Tusks Bürgerplattform bekundet haben, würde es für 248 Sitze im Sejm und damit für die Regierungsmehrheit reichen. Zunächst wird aber PiS vom Präsidenten den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten, und erst wenn die damit verbundene Abstimmung im Sejm keine Mehrheit ergibt, wäre der Weg für Tusk und seine Koalitionäre frei. Der von vielen herbeigesehnte Regierungswechsel ist also noch keineswegs sicher und wird noch auf sich warten lassen.
Sollte es aber eine vom überzeugten Pro-Europäer Donald Tusk angeführte neue polnische Regierung geben, wäre damit aus mehreren Gründen eine Chance für Europa verbunden. Erstens würde Tusk, der von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates war und in Brüssel nach wie vor grosses Ansehen geniesst, das Verhältnis Polens zur EU vermutlich auf eine konstruktivere Basis stellen. Dies betrifft, zweitens, vor allem das Thema Rechtsstaatlichkeit, bei dem die PiS-Regierung seit Jahren mit der EU über Kreuz liegt. Im Wahlkampf versprach Tusk, die nationalkonservative Gleichschaltung der Justiz unter PiS rückgängig zu machen und damit eine wesentliche Voraussetzung der EU-Kommission für ungehinderten Fluss der Mittel aus dem Next Generation EU-Fonds zu erfüllen. Drittens würde Donald Tusk mit grosser Wahrscheinlichkeit auch einen versöhnlicheren Ton gegenüber Deutschland anschlagen.
Damit ergäbe sich eine neue Chance für das Weimarer Dreieck, ein 1991 gegründetes Konsultationsforum von Polen, Deutschland und Frankreich, das sich der europäischen Integration verschrieben hat. Gerade in Zeiten, in denen Europa an mehreren Fronten akut herausgefordert wird (Russlands Krieg gegen die Ukraine, Konflikte auf dem Westbalkan oder die Angst vor einer neuen Schuldenkrise angesichts steigender Zinsen) gibt es zu vertiefter Zusammenarbeit unter grossen europäischen Ländern keine Alternative.
Ein Kurswechsel in Polen unter Tusk könnte, verbunden mit einer Verbesserung der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich, die nötige Initialzündung sein. In Zeiten, in denen nicht nur Ratingagenturen mit Argusaugen auf die immer dramatischere Spaltung der Gesellschaft (und die 2024 anstehende Wahl) in den USA schauen, Ostasien als Hoffnungsträger der Weltwirtschaft zumindest in Frage zu stellen ist und im Mittleren Osten die Zeichen auf Eskalation stehen, könnte Europa aus Finanzmarktsicht zum Hort der Stabilität werden. Die damit verbundene Verschiebung der Risikowahrnehmung würde vermutlich eher partiell erfolgen und dürfte vorübergehend sein. Dennoch könnte die Wahl in Polen nach langer Zeit wieder einmal ein Hoffnungszeichen in dieser Richtung setzen.
Einschränkend ist hinzuzufügen, dass auch ein Regierungswechsel wohl kaum alle Interessengegensätze lösen wird. In der Flüchtlingspolitik etwa, bei der die EU auf einen Verteilungsschlüssel für ankommende Flüchtlinge dringt, vertritt Tusk ähnliche Positionen wie die aktuelle Regierung. Angesichts der politisch zwischen Ost- und Westpolen sowie Stadt- und Landbevölkerung tief gespaltenen Wählerschaft müsste ein auf nationale Einigung abzielender neuer Ministerpräsident zahlreiche Kompromisse eingehen. Daran, dass es in Europa keine einfachen Wahrheiten gibt, hat sich nichts geändert.
Federal Open Market Committee (FOMC) – Notenbankerinnen dämpfen verschärfte Risikoaversion der Märkte
Fragt man sich, warum der Terror gegen Israel und die offensichtliche Gefahr einer Eskalation im Mittleren Osten nicht zu einer deutlich massiveren Risk-off-Reaktion von Anlegern geführt hat, wird man schnell bei der US-Notenbank Federal Reserve (Fed)-Kommunikation fündig. In der vergangenen Woche waren es vor allem Kommentare von Laurie Logan, Fed-Chefin in Dallas, sowie Mary Daly, deren Pendant in San Francisco, welche den Märkten die Angst vor immer weiter steigenden US-Zinsen nahmen. Denn wenn Laufzeitprämien stiegen und sich damit die Finanzierungsbedingungen verschärften, so Logan und Daly, nähmen die Märkte quasi der Notenbank ihren Job ab und die Fed könne demzufolge auf weitere Zinsanhebungen verzichten. Der Markt nahm es dankbar zur Kenntnis und reagierte nach dem Verdauen der ersten Schockwellen aus Israel mit einer Kurserholung.
Dass die geopolitische Verunsicherung aber weiter eine grössere Rolle spielt als in der jüngeren Vergangenheit, zeigte sich zum Wochenausklang beim Goldpreis (plus 5% über die Woche), dem Nachgeben von Renditen sicherer Häfen (minus 18 Basispunkte bei zehnjährigen US- und minus 15 Basispunkte bei deutschen Staatsanleihen) sowie dem deutlichen Anstieg der Volatilität bei europäischen Aktien auf jetzt wieder über 20. Öl auf die Wogen dieser unsicheren Welt, gegossen von der Kommunikation der Zentralbanken, dürfte also allenfalls kurzfristig helfen. Der Jahresausklang verspricht eher ungemütlich zu werden. (BlackRock/mc/ps)