BlackRock Marktausblick: 50 Shades of Stagflation
Von Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Bereits Ende 2021 war deutlich absehbar, dass für das Folgejahr mehrere gravierende Probleme das Investieren schwieriger machen würden: Da waren erstens die unberechenbaren Spätfolgen von Covid, welche sich vor Weihnachten vor allem im Auftauchen der extrem übertragbaren Omikron-Variante manifestierten. Zweitens zeichnete sich ab, dass die von Angebotsknappheiten befeuerte Inflation die Zentralbanken unter Druck setzen würde, die Zinszügel beherzter anzuziehen als bis dato angenommen. Und drittens begann sich Russlands Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine immer mehr nach einem veritablen Kriegsrisiko anzufühlen. Wie wir heute wissen, sind alle diese drei Problemfelder auf noch drastischere Weise eingetreten als erwartet und haben uns ein bisher ausgesprochen unerfreuliches Jahr an den Kapitalmärkten beschert.
Eines der Kernprobleme für Anleger besteht darin, dass nicht einfach, wie so oft in vergangenen typischen Konjunkturzyklen, zwischen Aktien und Anleihen substituiert werden kann. Wenn etwa in früheren Jahren eine Wachstumsschwäche die Zentralbanken bewegt hätte, die Zinsen zu senken, um eine sich abzeichnende Rezession abzumildern bzw. zu verhindern, bot dies Anlagepotenzial in Rentenpapieren. Klassischerweise konnte damit der Anleiheteil des Portfolios einen Teil der Verluste bei Aktien wettmachen. Im Niedrigzinsumfeld des letzten Jahrzehnts funktionierte dies aber bestenfalls anekdotisch. Der Grund ist bekannt: Wenn Zinsen schon an ihrem absoluten Tiefpunkt sind, können sie kaum noch weiter fallen, was aber notwendig wäre, um einen Kursanstieg der Anleihen zu ermöglichen und damit einen Teil der Aktienverluste abzupuffern. Anleihen verloren also im Niedrigzinsumfeld ihre Ballastwirkung. Nun kommt im gegenwärtigen, von den drei oben genannten Herausforderungen geprägten Umfeld noch hinzu, dass der globale Konfliktcocktail Wachstums- und Inflationsrisiken gleichzeitig produziert. Diese stagflationäre Gemengelage vollzieht sich in den grossen Wirtschaftsblöcken der Welt zwar zeitgleich, aber in unterschiedlich ausgeprägtem Masse und interessanterweise aus völlig unterschiedlichen Gründen. So ergeben sich Wachstumsängste in den USA vor allem aus der Befürchtung, die Fed könne die Zinsen bis zu einem Niveau anheben, bei dem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage abgewürgt wird. Und den Grund hierfür liefert eine Inflation, die inzwischen bei 8,3% liegt und sich immer weiter im Warenkorb ausbreitet. Ganz anders in Europa: Hier droht keine Lohn-Preis-Spirale, die Inflation ist vor allem energiepreisgetrieben und kaum jemand erwartet, dass die EZB die Zinsen über das neutrale Niveau hinaus anhebt. Dagegen droht aber konkrete Rezessionsgefahr vom Krieg Russlands gegen die Ukraine her, in Gestalt von Kaufkraftverlust durch steigende Energiepreise und dem lähmenden Stimmungseffekt, den ein derart schrecklicher Krieg direkt vor der Haustür mit sich bringt. In Asien schliesslich ist es vor allem die Covid-Pandemie, welche mit wochenlangen neuerlichen Lockdowns das Wachstum massiv belastet und damit globale Stagnationsrisiken verstärkt sowie über unterbrochene Lieferketten Angebotspreise weiter treibt. Richtet sich also in den USA die Hauptsorge auf die Zentralbank, so hadert Europa mit Russlands Angriffskrieg und Asien mit den Covid-Folgen, ergänzt durch unzählige weitere Schattierungen und Kombinationen dieser Risikofelder in den sonstigen Volkswirtschaften der Welt.
Die grossen Wirtschaftsräume dürften wieder mehr auf sich selbst schauen
Dass die Triade aus den USA, Europa und Ostasien jeweils auf andere Sorgen konzentriert ist, bietet einen Blick in die Zukunft nach dem, was aktuell gern als Zeitenwende bezeichnet wird, in Wirklichkeit vermutlich aber eine Kombination verschiedener Zeitenwenden ist. Nämlich dass sich im Zuge der Globalisierung 2.0 die für die Weltwirtschaft wichtigsten Teile wieder mehr auf sich selbst konzentrieren werden. Der Versuch, unabhängiger zu werden, dürfte künftige Wachstums- und Zinszyklen wieder asynchron werden lassen. Das muss nicht immer schlecht sein, erschwert aber etwa die Bewältigung grosser globaler Aufgaben wie etwa der Energiewende.
Trotz der schwierigen Konstellation aus komplexen Problemfeldern und einer kaum kalkulierbaren Eskalation dessen, was wir noch vor kurzem geopolitisches Risiko genannt hätten, bleiben wir für globale Aktien übergewichtet. Hierfür gibt es vor allem drei Gründe: Erstens dürfte ein Grossteil der erwarteten Wachstumsschwäche eingepreist sein. Zweitens dürften sich Zinsängste bezüglich Fed und EZB auf Sicht als übertrieben erweisen und zum Teil wieder ausgepreist werden. Und drittens bleiben die Realzinsen wohl im historischen Vergleich niedrig, was für ein Übergewicht realer Anlagen spricht. Klar ist aber, dass die Aktienpreise volatil bleiben dürften. Innerhalb der Anlageklasse Aktien könnte daher eine eher risikominimierende Positionierung, etwa in Minimum-Volatilitäts- oder Qualitätsaktien, eine erfolgversprechende Strategie sein. (BlackRock/mc/ps)