Von Ann-Katrin Petersen, CFA BlackRock-Kapitalmarktstrategin
Die Weihnachtsfeiertage nahen und auch an den Börsen hat sich in den vergangenen Wochen eine gewisse Festtagslaune breitgemacht. Rund 17% haben US-amerikanische und europäische Aktien, gemessen am S&P 500 und STOXX Europe 600, seit ihren Tiefständen von Mitte Oktober wettgemacht. Auch an den Rentenmärkten ist ein Durchatmen zu verzeichnen. So rentieren zehnjährige deutsche Bundesobligationen mittlerweile wieder unterhalb der Marke von 2%.
Trotz dieser jüngsten „Weihnachtsrally“ dürfte das Jahr 2022 aus Investorensicht als „annus horribilis“ in die Geschichte eingehen – geprägt von drastischen Kursschwankungen und einem parallelen Sinkflug an den globalen Aktien- und Obligationenmärkten. Seit Jahresbeginn haben nur wenige Anlageklassen, etwa Energierohstoffe und die US-Währung Dollar, eine positive Wertentwicklung verzeichnet.
Neues Jahr, neues Glück?
Frei nach dem Motto „neues Jahr, neues Glück“, liegt nun die Hoffnung der Anleger auf dem Jahr 2023. Die vorherrschende Erwartung scheint zu sein, das neue Jahr werde im Hinblick auf wichtige fundamentale Markttreiber ein Jahr der Wendepunkte markieren. Zu diesen Wendepunkten, die aus Investorensicht eine konstruktivere Grundhaltung und risikofreudigere Positionierung erlauben, gesellen sich insbesondere: Eine Inflationsdynamik, die auch in Europa ihre Höchststände hinter sich lässt; Zentralbanken, die ihren rigorosen Straffungskurs überdenken und/oder gar Zinssenkungen vornehmen; eine Weltkonjunktur, die sich im Jahresverlauf fängt.
Doch wie wir schon seit Kindertagen wissen: Es werden nicht alle ersehnten Weihnachtswünsche erfüllt. Vielmehr bleiben die fundamentalen Rahmenbedingungen für die Börsen von Umwälzungen gekennzeichnet. Auf überraschende Konjunktur- und Inflationsdaten, und damit verbunden schwankungsreiche Finanzmärkte, werden sich Anleger wohl auch im neuen Jahr einstellen müssen.
Neues Anlagedrehbuch erforderlich
Im Ausblick zur Jahresmitte des BlackRock Investment Institute (BII) hatten wir die These aufgestellt, dass ein neues Makro- und Marktregime begonnen hat. Die „Grosse Moderation“, die vier Jahrzehnte dauernde Periode stetigen Wachstums und Inflation, in der Nachfragefaktoren den Ton angaben, ist unseres Erachtens vorbei.
Das neue Regime wird geprägt von angebotsseitigen Produktionshemmnissen einerseits – sei es in Form von Materialengpässen, Lieferproblemen oder Arbeitskräftemangel – und daraus abgeleiteten brutalen Zielkonflikten für die wirtschaftspolitischen Akteure, allen voran die Zentralbankwelt, andererseits. Dies hat sich an vielen Stellen bestätigt – bei hartnäckig hoher Inflation (bis zuletzt zweistellig in Europa); wackligem Wirtschaftswachstum; kräftig einbremsenden, der Inflationsbekämpfung oberste Priorität einräumenden Zentralbanken; steigenden Obligationenzinsen und anhaltendem Druck auf Risikoaktiva.
Es ist ein Regime, in dem auch mit Blick auf das Anlagejahr 2023 alte Denkmuster auf den Prüfstand gestellt werden. Dazu gehört insbesondere die Annahme, dass die Zentralbanken zur Hilfe eilen, sobald das Wirtschaftswachstum schwächelt. Dazu gehört aber auch die Erwartung, dass ein wirtschaftlicher Abschwung das Inflationsproblem beseitigt und die Preisdynamik in absehbarer Zeit unterhalb die Zielmarken der Fed und Europäischen Zentralbank (EZB) von 2% drückt. Dazu gehört nicht zuletzt die Hypothese, dass Staatsobligationen hoher Bonität ein Portfoliogegengewicht in unsicheren Zeiten darstellen.
Drei Investmentthemen sind aus unserer Sicht mit Blick auf das Jahr 2023 zentral:
1. Den Schaden einpreisen
In der kürzeren Frist bleiben die Aussicht auf eine fortgesetzte Straffung der Zinspolitik und das restriktiver werdende Liquiditätsumfeld für die Märkte Belastungsfaktoren. Eine Rezession ist unseres Erachtens vorprogrammiert. Anders als von vielen Marktteilnehmern erwartet, dürften die Zentralbanken diesmal nicht zu Hilfe eilen, sobald die Konjunktur schwächelt. Zwar sollte sich das Jahr 2023 durchaus als das Jahr der zinspolitischen Verschnaufpause entpuppen, nicht jedoch der Leitzinssenkungen.
Während beispielsweise am US-Geldmarkt für die zweite Jahreshälfte 2023 derzeit ein um etwa 0,5 Prozentpunkte niedrigerer US-Leitzins gepreist wird, signalisierte der am vergangenen Freitag veröffentlichte Arbeitsmarktbericht ein weiter schrumpfendes Arbeitsangebot in den USA. Damit sind die Bedenken der US-Notenbank Fed hinsichtlich einer Lohn-Preis-Spirale noch nicht gebannt. Ein auf der Sitzung am 13. und 14. Dezember möglicherweise gedrosseltes Zinsanhebungstempo wäre weder zu verwechseln mit einer Unterbrechung des geldpolitischen Straffungszyklus, noch gar mit der Aussicht auf eine baldige Leitzinssenkung.
Worauf es ankommt: Zum einen auf die Bezifferung des wirtschaftlichen Schadens: Wie viel von alledem hat der Markt bereits vorweggenommen? Zum anderen auf unsere Einschätzung der Risikobereitschaft der Märkte: Ist ein ausreichendes Mass an wirtschaftlichem Pessimismus mit zunehmender Wahrscheinlichkeit gepreist? „Den Schaden einpreisen“ lautet deshalb unser erstes Thema für den Ausblick 2023.
Anlageimplikation: Wir gewichten den US-amerikanischen und europäischen Aktienmarkt taktisch weiterhin unter. Unseres Erachtens bilden insbesondere die Aktienkurse die bevorstehende Rezession und das damit einhergehende Enttäuschungspotenzial bei Unternehmensgewinnen noch nicht hinreichend ab. Erst wenn wir glauben, dass dies der Fall ist und/oder der Risikoappetit an den Börsen spürbar ansteigt, werden wir unsere Risikopositionierung wieder konstruktiver gestalten.
2. Obligationen überdenken
Das neue Investmentregime erfordert auch einen veränderten Blick auf Obligationen, unser zweites Thema. Der Zins ist zurück. TINA („There is no alternative“ – Es gibt keine Alternative), das Kürzel für die langjährige unermüdliche Jagd nach Rendite im Negativ- bzw. Niedrigzinsumfeld, wurde inzwischen abgelöst durch geflügelte Worte wie TARA („There is a real alternative“ – Es gibt eine tatsächliche Alternative) oder BARB („Bonds are back“ – Obligationen sind zurück).
Unseres Erachtens müssen sich Anleger dabei im Risikospektrum für festverzinsliche Wertpapiere nicht allzu weit in den oberen Bereich bewegen, um die inzwischen attraktiveren Renditen zu vereinnahmen. Dagegen glauben wir, dass eine anhaltend hohe und volatile Inflation länger laufende Staatsobligationen davon abhalten wird, ihre traditionelle Rolle als Portfoliogegengewicht zu spielen, neben der Aussicht auf eine weniger üppige Zentralbankliquidität bei hohen Staatsschuldenbergen. Anleger werden höhere Laufzeitprämien verlangen, sobald sie zu dem Schluss kommen, dass die Zentralbanken die Inflation nicht auf das Zielniveau von 2% herunter zwingen werden.
Anlageimplikation: Wir bevorzugen daher kurzlaufende Staatsobligationen und Unternehmensobligationen hoher Bonität („Investment Grade“), in deren Renditen wir einen attraktiven Ausgleich für Rezessionsrisiken eingepreist sehen. Wir bleiben im Bereich der langfristigen Staatsobligationen untergewichtet.
3. Leben mit der Inflation
Auch wenn im kommenden Jahr die Inflation sinkt, etwa bedingt durch energiepreisgetriebene Basiseffekte, dürften langfristige Veränderungen im Rahmen des neuen Regimes, wie die Alterung der Gesellschaft, die grüne Transformation und eine Neusortierung globaler Handelsströme dafür sorgen, dass die Inflation dauerhaft über dem Ausgangsniveau der Pandemie verharrt.
Anlageimplikationen: Wir bleiben sowohl in taktischer als auch strategischer Hinsicht übergewichtet in inflationsgeschützten Obligationen. Wir sind strategisch im Bereich von Industrieländer-Aktien übergewichtet.
Insgesamt erfordert das neue Investmentregime also auch ein aktualisiertes Anlagedrehbuch. Es erfordert einen häufigeren Blick ins Depot und gegebenenfalls Anpassung der Balance zwischen Risikoappetit und dem, was der Markt bereits eingepreist hat. Dabei wird erforderlich sein, noch granularer zwischen Sektoren, Regionen und Unterabteilungen von Anlageklassen zu differenzieren, statt wie bisher auf breite Positionierungen zu setzen. Fingerspitzengefühl bleibt gefragt.
Zum Schluss ein kleiner Werbeblock in eigener Sache: Im nächsten Kapitalmarkt-Webinar, am 12. Dezember um 15 Uhr, ordnen Dr. Martin Lueck und ich die wichtigsten Aussagen des globalen Ausblicks für Sie ein. Herzlich Willkommen. (BlackRock/mc/ps)