Von Ann-Katrin Petersen, CFA BlackRock Senior-Kapitalmarktstrategin
Der fulminante Jahresauftakt an den Aktienmärkten, angeführt von Europa, ist bemerkenswert und will so gar nicht zu den lediglich vorsichtig konstruktiven Konsenserwartungen für das Jahr 2023 passen. Gemessen am EuroStoxx 50 haben europäische Aktien in nur zwei Handelswochen ein Plus von über 9% verzeichnet, während der US-amerikanische Leitindex S&P 500 „immerhin“ um mehr als 4% nach oben kletterte. „Sichere Häfen“ wie der Schweizer Franken und US-Dollar waren weniger gesucht. Rückläufige Renditen und Risikoaufschläge an den Anleihemärkten sowie stark invertierte Zinsstrukturkurven verdeutlichen, dass die jüngste Aufwärtsrally massgeblich durch Inflationshoffnungen und Zinssenkungsfantasien begünstigt wird. Die Renditen von zehnjährigen US-Staatsanleihen und deutschen Bundesanleihen sind seit Jahresbeginn um über 30 bzw. 40 Basispunkte gefallen.
Ein verhaltener Jahresstart für risikoreichere Anlageklassen angesichts einer drohenden Rezession und enttäuschenden Unternehmensgewinnen, gefolgt von einer Erholungsbewegung im weiteren Jahresverlauf – so oder so ähnlich hatte es dagegen die Mehrheit der Auguren in ihre Kapitalmarktausblicke für das Jahr 2023 geschrieben. Bedeutet der schwungvolle Jahresauftakt nun, dass derartige Prognosen bereits nach gerade einmal zwei Wochen über den Haufen geworfen werden sollten? Wohl kaum.
Ganz nüchtern betrachtet hat sich die fundamentale Lage seit dem Jahreswechsel nicht nennenswert verändert: So lässt erstens die Inflationsdynamik in den USA fortgesetzt nach (im Dezember fiel die Gesamtinflationsrate von 7,1% auf 6,5%), während sich der dortige Arbeitsmarkt weiterhin robust zeigt. Soweit wenig Neues. Zweitens bleiben die US-Notenbank Fed und die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrer Rhetorik unverändert auf (Inflationsbekämpfungs-)Kurs. Allerdings ist anders als im Euroraum das Ende des Fed-Zinsanhebungszyklus absehbar – das war es aber auch bereits Ende 2022. Drittens wird Chinas abrupter Kurswechsel in der Covid-Politik zu einem höheren Wirtschaftswachstum der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt beitragen (wir rechnen mit über 6% im Jahresdurchschnitt 2023, angekurbelt durch den binnenwirtschaftlichen Neustart). Kurzfristig stellt das hohe Infektionsgeschehen jedoch zunächst eine konjunkturelle Hürde im Reich der Mitte dar. Wirtschaftsdaten aus China enttäuschten nicht ohne Grund zuletzt die Erwartungen (abzulesen an sog. Überraschungs- bzw. „Surprise“-Indikatoren).
Was also treibt die Märkte in diesen Tagen an? Vermutlich ist es eine Mischung aus Jahresanfangseuphorie und dem „Prinzip Hoffnung“. Eine Reihe von Datenveröffentlichungen wurden zuletzt schon fast mutwillig optimistisch interpretiert. Noch ist in den harten US-Konjunkturdaten keine Rezession zu erkennen. Wenngleich der zinssensitive Wohnungsbau bereits in der Krise steckt, wie verschiedene Häusermarktindikatoren in dieser Woche untermauern dürften, breiten sich Hoffnungen auf eine „sanfte Landung“ der US-Wirtschaft aus. Insbesondere scheinen Börsianer das Inflationsproblem bereits abgehakt zu haben, zumindest in den USA. Gleichzeitig gilt offensichtlich nach wie vor, nicht zuletzt vor dem Hintergrund (noch) steigender Notenbankzinsen, die Devise: „Bad News are Good News“. Beispielhaft genannt sei hier das auf den drastisch schwächeren ISM-Dienstleistungsindex in den USA folgende Kursfeuerwerk. Soll heissen: Schwache Konjunkturdaten stehen „hawkishen“ Notenbanken im Weg und lassen eine sportlichere Bewertung von Risikoaktiva zu.
Wir denken, dass dem „Jahresanfangsbraten“ nur bedingt zu trauen ist. Dies kann an einer genaueren Betrachtung der oben genannten drei Punkte festgemacht werden.
- Inflation: Erwartungsgemäss sinkt die Teuerung von ihren rekordträchtig hohen Niveaus, getrieben in erster Linie von nachlassenden Energie- und Güterpreisen. Im Einklang mit der Umkehrung der Ausgaben zurück in Richtung Dienstleistungen macht eine mässigere Güterpreisinflation Platz für mehr Inflation im Dienstleistungssektor. Allerdings werden sich halbierende Inflationsraten, etwa von 9% (Juni 2022) in Richtung 4% in den USA, einfacher zu erreichen sein, als sich unterhalb der Marke von 3% einpendelnde, und diese Entwicklung ist keine Selbstverständlichkeit. Denn rückläufige Gesamtinflations- stehen hartnäckig hohen Kernraten gegenüber. Im Euroraum haben letztere auch nach Lesart der EZB noch nicht ihren Höhepunkt markiert. Ergo: Das Thema Inflation wird nach unserem Dafürhalten nicht gänzlich verschwinden. Der jüngste Rückgang beim Anstieg der US-Löhne sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass strukturell engere Arbeitsmärkte im Lichte einer alternden Erwerbsbevölkerung für mehr Lohnwachstum in der Zukunft sprechen. Der unterliegende Inflationsdruck dürfte weiter deutlich über den Notenbankzielen von 2% verharren.
- Geldpolitik: Die Notenbanken erreichen bald ihre jeweiligen Leitzinsgipfel – in den USA früher als im Euroraum, und auf höheren Niveaus. Anders als von vielen Marktteilnehmern erwartet, dürften Fed und EZB jedoch nicht zu Hilfe eilen, sobald die Konjunktur schwächelt. Zinssenkungen noch in diesem Jahr, wie sie aktuell am US-Geldmarkt gepreist werden, bleiben unseres Erachtens unwahrscheinlich. Kurzfristig besteht vielmehr die Gefahr, dass die Lockerung der Finanzierungsbedingungen angesichts gefallener Anleiherenditen und festerer Aktienmärkte die Notenbanken abermals förmlich zu einer strengeren Gangart zwingen, die letztlich auch den Markt auf dem falschen Fuss erwischen könnte. Noch offen ist beispielsweise, ob die Fed auf der nächsten Sitzung Anfang Februar das Straffungstempo erneut verringert, und zwar von 50 auf 25 Basispunkte. Die Bank of Japan wiederum könnte auf ihrer Sitzung am Donnerstag ihre Zinskurvenkontrolle für 10-jährige Staatsanleihenrenditen weiter ausweiten – oder ganz aufgeben. Vor Weihnachten hatten die japanischen Notenbanker überraschend ihr Toleranzband angepasst. Japans Verbraucherpreiszahlen für Dezember (Freitag) könnten den Anstoss für einen Ausstieg aus der Niedrigzinspolitik geben.
- Konjunktur: Eine Rezession in den USA und in Europa ist unseres Erachtens vorprogrammiert. Weitere Zinserhöhungen und die verzögerten Auswirkungen bereits erfolgter Zinsschritte auf die Realwirtschaft treffen auf andere Bremsfaktoren (u.a. Erschöpfung der Pandemie-Ersparnisse der US-Verbraucher bis zur zweiten Jahreshälfte; Europas Energieschock), die einer „sanften Landung“ entgegenstehen. Chinas Wiedereröffnung stützt die Weltwirtschaft. Der konjunkturelle Neustart im Reich der Mitte wird jedoch durch eine schwächere Exportnachfrage aus den USA (der Konsum verschiebt sich von Gütern zu Dienstleistungen) nicht so kraftvoll ausfallen wie aktuell mitunter erhofft. Das Augenmerk dürfte sich daher in den kommenden Monaten auf die chinesischen Konsumausgaben und Unternehmensinvestitionen richten, um die Stärke der Erholung in China einzuschätzen. In Summe werden wir in den kommenden Monaten spürbare Bremsspuren im Wirtschaftsgeschehen der entwickelten Staaten erkennen.
Was bedeutet das für Anleger?
„Bad News“ sind aktuell „Good News“ – aber wie lange noch? Unseres Erachtens dürfte sich die durch Hoffnungen auf eine geschmeidige Disinflation und Zinssenkungen beflügelte Aufwärtsrally kaum mit der Dynamik der ersten zwei Handelswochen fortsetzen.
Um die Inflation wieder in die Nähe der Preisstabilitätsmandate der Zentralbanken zu bringen, sind in einer Welt, in der Angebotsknappheiten die erste Geige spielen, anhaltend hohe Leitzinsen und eine Rezession erforderlich. Und während möglicherweise die am meisten antizipierte Rezession der Geschichte bevorsteht, erwartet der Konsens, dass diese kurz und oberflächlich ausfallen wird. Zum jetzigen Zeitpunkt bleiben die Aktienkurse in den USA und Europa weder für einen tiefen noch für einen durchschnittlichen Wirtschaftsabschwung gepreist. Ein Blick in die Vergangenheit offenbart, dass in allen US-Konjunkturzyklen seit den 1950er Jahren die Aktienmärkte während oder nach einer Rezession ihren Höhepunkt erreichten, nicht im Vorfeld.
Sich eintrübende Wirtschaftsdaten könnten die aus unserer Sicht überfällige Korrektur bei den Schätzungen für die Unternehmensgewinne auslösen und die Märkte belasten, sodass dann „Bad News“ auch tatsächlich wieder „Bad News“ wären. Eine Voraussetzung für ein nachhaltiges konstruktives Umfeld im weiteren Jahresverlauf.
Nicht ausgeschlossen, dass der Jahresauftaktrally bereits im Rahmen der Gewinnberichtssaison zum vierten Quartal 2022, die in dieser Woche in Europa beginnt (74 Unternehmen öffnen ihre Geschäftsbücher) und in den USA an Fahrt aufnimmt (131 Unternehmen), die Puste ausgeht. Enttäuschende Zahlenwerke und verhaltene Ausblicke der Firmenchefs auf 2023 könnten für Ernüchterung bei Anlegern sorgen und erste Gewinnmitnahmen veranlassen. Bis auf Weiteres bevorzugen wir innerhalb des Aktienuniversums taktisch, d.h. mit Blick auf die nächsten sechs bis zwölf Monate, Schwellenländer gegenüber ihren US-amerikanischen und europäischen Pendants.
Es gibt keine Garantie dafür, dass die Prognosen eintreten werden. (BlackRock/mc/ps)