BlackRock Marktausblick: Die letzte Meile ist die schwerste
Von Ann-Katrin Petersen, Senior Investment Strategist bei BlackRock
Beim Langstreckenlauf wird oft gesagt, die letzte Meile sei die schwierigste. Und auch der Anpassungsprozess der Börsen an das aus unserer Sicht neue Marktregime ist bisweilen wenig bequem vonstattengegangen – ein Regime aus straff gehaltenen Zinszügeln der Notenbanken, nachlassender, aber hartnäckig hoher Inflation in den Industrieländer, gebremstem Wirtschaftswachstum in Europa und den USA und entsprechend gedämpften Aussichten für die Gewinnmargen der Unternehmen. Seit dem Sommer haben sich die Aktienmärkte schwerer getan und einen Teil der Wertentwicklung seit Jahresbeginn wieder eingebüsst (Quelle: Refinitiv Datastream). Unter der Last der emporkletternden Langfristzinsen einerseits, aber auch der komplexen, bestürzenden geopolitischen Gemengelage im Nahen Osten andererseits standen die Zeichen auf Korrekturmodus. Entsprechend war der Herbst an den Börsen von Kursrücksetzern und hoher Schwankungsbreite geprägt.
Doch langlaufende Staatsobligationen waren zuletzt wieder gefragter, nachdem 10-jährige US-Staatsobligationenrenditen im Oktober die höchsten Stände seit 2007 markiert und die marktpsychologisch wichtige Schwelle von 5% gestreift hatten. „Short“-Positionen nicht nur bei US-Staatsobligationen wurden inzwischen vermehrt glatt gestellt. Für Renditeabwärtsdruck dies- und jenseits des Atlantiks sorgte zudem, dass eine Reihe von Konjunkturindikatoren zuletzt die Erwartungen eher enttäuscht hatte (u.a. verhaltener US-Beschäftigungszuwachs im Oktober, schwache Einzelhandelsumsätze und Produktionsdaten im Euroraum) und die langfristigen Inflationserwartungen etwas nachgaben, insbesondere im Euroraum. Die zuletzt in der Tendenz wieder nachlassenden Langfristrenditen – und der damit grössere Abstand der 10-jährigen US-Treasuries von der 5%-Marke – hatten nicht nur für eine Rally am Obligationenmarkt gesorgt, sondern auch für ein gewisses Aufatmen an den Börsen. Der US-Aktienmarkt , gemessen am S&P 500 Composite, liegt seit den Tiefstständen vom Oktober um 7% im Plus (Quelle: Refinitiv Datastream).
Apropos Langstreckenlauf: Ob nun auf die letzten Meter doch noch ein goldener Herbst bevorsteht, bleibt jedoch mit einem Fragezeichen behaftet. Zwar liegt die Hürde für positive Überraschungen seit den Kursrücksetzern und angesichts der erhöhten Risikoaversion wieder niedriger. Gut möglich, dass die meisten verkaufswilligen Anleger taktisch ihre Aktienquote bereits reduziert haben, d.h. positionierungsseitig keine spürbare Verkaufswelle mehr droht. Eine Reihen von Faktoren spricht allerdings weiterhin für Fingerspitzengefühl bei der Anlage, darunter der Zickzackkurs bei Langfristzinsen und die verhalteneren Gewinnausblicke der Unternehmen für die kommenden Quartale.
Erstens sind weder Renditeaufwärtsdruck noch Renditeabwärtsdruck an den Obligationenmärkten eine Einbahnstrasse. Vielmehr erleben wir ein ausgeprägtes Auf und Ab auch am Rentenmarkt. Wieder leicht höhere Renditen zum Wochenabschluss bestätigen das, vor allem aber ein Blick den MOVE-Index, ein Barometer für die implizite Volatilität von Obligationenoptionen. Dieser verharrt spürbar über dem historischen Durchschnitt. Schon allein diese Renditevolatilität ist ein Grund dafür, dass Anleger mehr Entschädigung für das Risiko zu fordern, das mit dem Halten langfristiger Obligationen einhergeht (Laufzeitprämie).
Für Entspannung bei langfristigen Staatsobligationen sorgt für sich genommen, dass wahrhaftige Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung erzielt wurden. Darüber hinaus, dass die Neubewertung der geldpolitischen Erwartungen – einhergehend mit der Erkenntnis, dass auf den Leitzinsgipfel ein Zinsplateau folgen dürfte, kein baldiges Zurückrutschen ins Niedrigzinsumfeld – bereits in Gang gesetzt wurde. Der Fokus hat sich auf die Dauer der Hochzinsphase verschoben – Stichwort „Tafelberg“ statt „Matterhorn“. Weiterhin gilt jedoch, dass fiskalpolitische Fehltritte angesichts hoher Staatsschuldenberge und eine Verlangsamung der Inflation, die eher einer Achterbahnfahrt gleicht, immer wieder für Renditeaufwärtsdruck sorgen können. Die „Bewältigung der letzten Meile der Disinflation“ sei die schwerste für die Zentralbankwelt, gab Isabel Schnabel, Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB), kürzlich in einem Gastvortrag kund. Sie verwies dabei auf die jüngsten Expertenprognosen der EZB. „Die Prognosen verdeutlichen ein wesentliches Merkmal der letzten Meile: Während es ein Jahr dauerte, um die Inflation (im Euroraum) von 10,6% auf 2,9% zu bringen, wird es voraussichtlich etwa doppelt so lange dauern, bis die Inflation von hier wieder auf % geht.“ Mit anderen Worten dürfte sich der Disinflationsprozess deutlich verlangsamen. Dies hinge im Wesentlichen mit der Art und Weise zusammen, wie Löhne und Preise festgelegt werden.
In dieser Woche richtet sich das Augenmerk der Obligationeninvestoren dabei auf die USA: Analysten rechnen im Durchschnitt damit, dass die US-Gesamtinflationsrate im Oktober weiter in Richtung der 3%-Marke gesunken ist, vor allem dank sinkender Benzinpreise. Allerdings dürfte die für den Rentenmarkt relevante Kerninflationsrate, die Energie- und Lebensmittelpreise ausklammert, weiterhin hartnäckig über 4,0% liegen. Fiskalpolitisch wiederum droht erneut ein „Shutdown“, eine Schliessung der Bundesbehörden, weil der US-Kongress immer noch keinen regulären Haushalt verabschiedet hat und das Übergangsgesetz, das die Regierung ermächtigt, dennoch Ausgaben zu tätigen, am Freitag ausläuft. Bis dahin muss der Kongress die erheblichen Meinungsverschiedenheiten überwinden und eine neue Übergangsverordnung verabschieden, um einen Shutdown zu verhindern. Beides liefert an sich keinen Impuls dafür, dass die Renditen unter die jüngsten Tiefststände fallen. In Europa derweil sind seit der EU-Ratssitzung am vergangenen Donnerstag die Hoffnungen gestiegen, dass doch noch bis Jahresende ein Kompromiss bei der Reform der EU-Fiskalregeln erzielt werden kann.
Zweitens hat die Gewinnberichtssaison für das dritte Quartal in den USA erfreulicherweise auf der positiven Seite überrascht. Gleichzeitig jedoch stützen in einem unverändert hochkonzentrierten Aktienmarkt fortgesetzt insbesondere eine Handvoll von Mega-Cap-Aktien die Gewinnentwicklung. Mit Blick nach vorne stufen Analysten die erwarteten Gewinne für die kommenden 12 Monate aufgrund der vorsichtigen Haltung der Unternehmen herab. Dies ist aus unserer Sicht wenig überraschend, denn die Hoffnungen auf eine lang erwartete Erholung verschleiern einen immer noch relativ stagnierenden Wachstumstrend. Die Wertentwicklung des gleichgewichteten S&P 500 liegt seit Jahresbeginn im Minus[1].
Was bedeutet all dies für Investoren?
Die Attraktivität von Zinseinkommen in Portfolios bleibt in einem Umfeld anhaltend straffer Zinszügel der Notenbanken bestehen. Während die zu niedrige Laufzeitprämie zu Vorsicht mahnt beim Eingehen von Durationsrisiken in der mittleren Frist, haben wir unser taktisches Untergewicht bei US-Staatsobligationen geschlossen. Denn die geldpolitische Erwartungen sind inzwischen adäquater gepreist. Wir bevorzugen aber nach wie vor europäische Kernstaatsobligationen. Bei risikoreicheren Anlageklassen wiederum mag dieses Umfeld den Anschein haben, nur wenige Renditechancen zu bieten. Dennoch sehen wir zahlreiche, auch in einem Umfeld weniger rosig daherkommender gesamtwirtschaftlicher Perspektiven. Fingerspitzengefühl bleibt gefragt. Innerhalb des Aktienuniversums der Industrieländer stehen wir beispielsweise dem japanischen Aktienmarkt fortgesetzt konstruktiv gegenüber dank eines spürbar aktionärsfreundlicheren Ansatzes japanischer Unternehmen. Zum anderen bieten „Megaforces“ aus unserer Sicht spannende regionen- und sektorenübergreifende Anlagechancen.
[1] Quelle: S&P 500 Equal Weight Index – Stand: 13.11.2023. Die angegebenen Daten beziehen sich auf die Wertentwicklung in der Vergangenheit. Die Wertentwicklung in der Vergangenheit ist kein zuverlässiger Indikator für aktuelle oder zukünftige Ergebnisse.