Zürich – Nach dem erfreulichen Kapitalmarktjahr 2021 hatten wir für 2022 mit einem schwierigeren Jahr gerechnet, zugegebenermassen aber nicht mit einem derart schlechten. Die Gründe für mehr Gegenwind hatten ja schon Ende letzten Jahres auf der Hand gelegen: Einbremsende Zentralbanken, eine weiter unberechenbare Covid-Situation und die fragile geopolitische Lage – all das erschien wie die Mixtur für rauere Zeiten an den Märkten.
Von Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Dass sich aber jeder einzelne dieser Faktoren noch viel negativer entwickeln würde als befürchtet, das hatten wohl die wenigsten auf dem Schirm, auch wir nicht. In der Tat haben die Zentralbanken, allen voran die US-Fed, beschlossen, geradezu auf Teufel komm raus, mit unerwartet energischen Zinsschritten die Inflationserwartungen einzufangen. Dazu bleibt Covid nicht nur mit Blick auf eine eventuelle Herbstwelle eine nicht enden wollende Bedrohung, sondern die gegenwärtigen Lockdowns in Asien sorgen auch jetzt schon ganz konkret für Bremsspuren im Welthandel und damit in der wirtschaftlichen Aktivität. Allen voran aber hat sich das ‚geopolitische Risiko‘ Russland/Ukraine zum schlimmsten europäischen Krieg seit 1945 entwickelt, mitsamt Kriegsverbrechen, Massenflucht und unsäglichem Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine, andererseits leider wenig Hoffnung auf ein baldiges Ende. Es ist diese Kombination von Faktoren, von denen jeder einzelne schon für eine massive risk-off-Positionierung von Anlegern ausgereicht hätte, welche bis Ende April zu einem historisch schlechten Ergebnis für Aktien und Renten gleichermassen geführt hat.
S&P 500 2022 mit dem schlechtesten Start seit 1939
In der Tat sind die Zahlen bemerkenswert. So hat der S&P 500 mit einem Kursrückgang von 8,8% im April den schlechtesten Monat seit dem coronabedingten Absturz vom März 2020 hingelegt und in der bisherigen Gesamtbetrachtung 2022 den schlechtesten Jahresstart seit 1939 – hoffen wir, dass die Parallele zum Beginn des Zweiten Weltkrieges nur ein Zufall ist. Noch brutaler liest sich der Einbruch an der Technologiebörse Nasdaq, wo die Kurse im April um 13,4% einbrachen und damit die traurigste Monatsperformance seit der Implosion des Bankensektors im Oktober 2008 produzierten. Für den Nasdaq-Index ist die Jahresperformance 2022 damit sogar die schlechteste seit Beginn der Aufzeichnungen gewesen. Erschwerend kommt dabei für Anleger hinzu, dass Anleihen vor allem wegen der Erwartungen bezüglich der Zentralbanken keinen Schutz vor Kurseinbrüchen bei Aktien bieten konnten. Allein im April verloren globale Bonds 3,8% an Wert, seit Jahresbeginn 9,5%. Das hat es seit Mitte der 70er Jahre nicht mehr gegeben.
Bleibt die Hoffnung auf die zweite Jahreshälfte. Und in der Tat: Blicken wir auf die drei Risikofelder Zentralbanken, Covid und Krieg, könnte sich bei zwei davon leichte Besserung einstellen. So könnte bei den Zentralbanken das Maximum an monetärer Straffung schon bald eingepreist sein. In der Tat spricht vieles dafür, dass die Zentralbanken derzeit vor allem auf eine Dämpfung der Inflationserwartungen abzielen und deshalb schon zu Beginn des Zinserhöhungszyklus mit besonders kernigen Schritten aufwarten (sogenanntes Frontloading), angesichts der nach wie vor wackligen Makrolage aber nicht weit über den neutralen Zins hinausgehen werden, wenn überhaupt.
Beim Covid-Risiko könnte sich abzeichnen, dass in der westlichen Welt die Endemisierung so weit fortgeschritten ist, dass selbst bei wieder aufflammendem Infektionsgeschehen nach dem Sommer keine weitreichenden Einschränkungen nötig sein werden. Dies könnte eine Fortsetzung des wirtschaftlichen Neustarts mit mehr Dynamik ermöglichen und auch den Ausblick für die Unternehmensgewinne deutlich aufhellen.
Das grosse Restrisiko ist und bleibt Russlands Angriffskrieg in der Ukraine. Hier bleibt allenfalls die Aussicht, dass die russische Seite ihre Kriegsziele auch weiterhin nicht erreicht, also weder eine vollständige Eroberung der Ostukraine inklusive Einkesselung der ukrainischen Armee noch eine Komplettierung des Schwarzmeer-Korridors vom Donbass über die Krim bis Odessa und Transnistrien, und daraufhin die Erkenntnis, dass die einzige Exit-Strategie für das russische Regime ein Einfrieren des erreichten Zustandes und ein Waffenstillstand sind. Sollte es dazu nicht spätestens im Sommer kommen, dürfte die Lage weiter eskalieren. In jedem Fall ist die Aussicht, dass Russland auf absehbare Zeit in den Kreis der zivilisierten Länder zurückkehren kann, minimal, was weiter steigende Energiepreise und Knappheit einer ganzen Reihe weiterer Güter bedeuten dürfte. Auch lassen sich leicht Szenarien denken, die so grauenhaft sind, dass verglichen damit jede Erleichterung von Zentralbank- und Covid-Seite wie der sprichwörtliche Tropfen auf dem heissen Stein verdampfen würde.
Diese Woche im Fokus: US-Makrodaten und Fed
Nach der überraschenden Schrumpfung des US-BIP im ersten Quartal (-1,4% annualisiert) richten sich besorgte Blicke auf wichtige Zahlen aus den USA in dieser Woche. Sowohl der Arbeitsmarktbericht (+400.000 Stellen, Arbeitslosenquote bei 3,6%) als auch die ISM-Indizes für verarbeitendes und nicht-verarbeitendes Gewerbe (Zuwächse auf robuste 58 respektive 59 Punkte) werden in Grössenordnungen erwartet, die nicht auf unmittelbare Rezessionsrisiken hindeuten. Bleibt der Blick auf das wichtigste Marktereignis der Woche, die FOMC-Sitzung. Hier dürfte die Fed die Erwartung einer Leitzinserhöhung um 0,5 Prozentpunkte erfüllen und Details zur Bilanzverkürzung mitteilen. Den Markt dürften derart markige Ansagen kaum verschrecken, die Aussicht auf ein beherztes Einbremsen der Fed ist wohl bereits weitgehend eingepreist.