Von Ann-Katrin Petersen, Senior Investment Strategist bei BlackRock
Es weihnachtet an den Kapitalmärkten, und sowohl November also auch Dezember dürften ihrem Ruf als saisonal starke Börsenmonate wieder einmal gerecht werden. Dabei fiel die Rallye auf Wochensicht vor allem an den Anleihemärkten bemerkenswert aus. Zweijährige US-Staatspapiere verbuchten ausserordentliche Renditerückgänge von über 30 Basispunkten, zehnjährige US-Staatsanleihen rentierten wieder merklich unter der Marke von 4%, mit der selbst Papiere mit 30-jähriger Laufzeit flirteten, und die Rendite für zehnjährige deutsche Bundesanleihen tauchte unter die 2%-Marke ab (Quelle: Refinitiv Datastream, 15.12.2023).
Santa Claus vs. Grinch: Mr. Powell befeuert Zinsoptimismus, Madame Lagarde stemmt sich dagegen
In einer grossen Zentralbankwoche waren die Leitzinsen dies- und jenseits des Atlantiks zwar erwartungsgemäss unverändert gelassen worden. Jedoch hatte US-Notenbankchef Jay Powell den enthusiastischen vorweihnachtlichen Zinsoptimismus an den Märkten nurmehr befeuert. Als Mr. Powell am Mittwoch bei der Pressekonferenz vor die Mikrofone trat, stellte er erstmals mündlich Zinssenkungen in Aussicht. Laut der aktualisierten Median-Projektionen erwartet die Fed im Jahr 2024 nun drei statt bisher zwei Zinssenkungen. Eine sanfte Landung der US-Wirtschaft wird für möglich erachtet.
Im Euroraum dagegen versuchte sich Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), am Donnerstag dagegen zu wehren, Weihnachten so früh einzuläuten, was zumindest teilweise von Erfolg gekrönt war. Sie deutete an, dass Zinssenkungen wahrscheinlich nicht bereits im März 2024 erfolgen werden, wie der Markt hoffte („We did not discuss rate cuts at all.“ – deutsch „Wir haben überhaupt nicht über Zinssenkungen gesprochen“). Noch ist die EZB nicht bereit, den Sieg in ihrem Kampf gegen die Inflation zu erklären („No, we should absolutely not lower our guard.“- deutsch „Nein, wir sollten auf keinen Fall unsere Deckung senken“). Entsprechend legte Präsidentin Lagarde den Schwerpunkt weniger auf die jüngst positiv überraschenden Inflationszahlen als vielmehr auf den hartnäckig hohen binnenwirtschaftlichen Preisdruck im Euroraum, vor allem aufgrund des kräftigen Wachstums der Lohnstückkosten, im Lichte eines festen Arbeitsmarkts und gedämpfter Produktivität.
„Zinszauber“ sorgt für versöhnlichen Abschluss in einem schwankungsreichen Jahr
Dennoch blieben die Weihnachtsstrümpfe auch im Euroraum nicht ganz leer:
- Erstens dürfte sich 2024 auch im Euroraum als das Jahr der Zinswende entpuppen, und Präsidentin Lagarde schloss in datenabhängiger Manier Zinssenkungen im ersten Halbjahr nicht ausdrücklich aus. Die Einschätzung aus dem Kommuniqué der Oktober-Sitzung, dass die Inflation „zu lange zu hoch“ bleiben wird, wurde gestrichen.
- Zweitens kündigte die EZB zwar früher als erwartet eine Beschleunigung der quantitativen Straffung an, indem Reinvestitionen im Rahmen des Pandemie-Notfallankaufprogramms (PEPP) gedrosselt werden sollen. Das Tempo wird jedoch moderater ausfallen als befürchtet (durchschnittlich 7,5 Mrd. Euro monatlich, d.h. ca. 45 Mrd. Euro im Jahr 2024 statt der im Schnitt erwarteten 100 Mrd. Euro) und erst in der zweiten Jahreshälfte beginnen, gefolgt von der erwarteten vollständigen Einstellung der Wiederanlage per Jahresende. Dass Anleiheinvestoren mit einer schärferen Beschleunigung der Bilanznormalisierung gerechnet hatte, liess sich an den engeren Renditeaufschläge bei Peripherieanleihen ablesen.
- Drittens wurde die immer noch „hawkisher“ als der Markt anmutende Haltung der EZB bereits am nächsten Tag in Frage gestellt. Der merklich schwächer als erwartete Einkaufsmanagerindex für den Euroraum (sank um 0,6 Zähler auf noch „rezessivere“ 47, deutlich unter dem Konsens von 48) liess Zweifel an den Konsenserwartungen einer Konjunkturerholung in näherer Zukunft aufkommen. Aus Marktsicht eine Bestätigung, dass der Disinflationstrend in der Eurozone anhält. Daran vermochte auch nicht das Signal einer erneuten Beschleunigung der Teuerung auf Erzeugerebene (die zweite in Folge) zu rütteln.
Insgesamt zeichnet sich auf Jahressicht, nach den schmerzlichen Kursverlusten bei Aktien und Anleihen im Jahr 2022, ein versöhnlicher Jahresabschluss ab. Doch war es ein schwankungsreiches Jahr, nicht nur an den Aktienbörsen, sondern auch an den Anleihemärkten, geprägt durch ein ganzes Potpourri an stetig wechselnden Marktnarrativen. Von Rezessionssorgen und ausgeprägten Zinssenkungserwartungen zu Beginn des Jahres über die Hoffnung auf eine „sanfte Landung“ der Wirtschaft im Sommer, ungeachtet der scharfen Straffung der Geldpolitik, bis hin zu der Aussicht auf längerfristig höhere Zinsen dies- und jenseits des Atlantiks (Stichwort „Tafelberg“ statt „Matterhorn“), die für eine kräftige Kurskorrektur im späten Sommer gesorgt hatten. Auf tragische Weise hat sich im Jahr 2023 zudem eine Renaissance der geopolitischen Zersplitterung weiter manifestiert.
Besonders überrascht hat die meisten Marktteilnehmer in diesem Jahr wohl zum einen die ungewöhnlich hohe Volatilität am Anleihenmarkt, getrieben von erratischen geldpolitischen Erwartungen. An den Aktienmärkten wiederum überlagerten strukturellen Verschiebungen, allen voran die Künstliche Intelligenz (KI) sowie, „klassische“ gesamtwirtschaftliche Einflussgrössen, und spielten eine Rolle für die ausserordentlich hohe Streuung der Performance, die Fingerspitzengefühl entlohnte.
Ausblick 2024: Zinswende, aber keine Rückkehr zur Welt, wie wir sie kannten
Zu diesen strukturellen Verschiebungen – oder MegaForces – die unseres Erachtens regionen- und sektorenübergreifend mit merklichen Rentabilitätsverschiebungen einhergehen dürften, zählen neben der digitale Disruption und KI die Neuverkabelung globaler Lieferketten aufgrund geopolitischer Umbrüche und wirtschaftlichen Wettbewerbs, der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft, demografische Entwicklungen und die Neuordnung der Architektur des Finanzsystems.
In konjunktureller Hinsicht erwarten wir im kommenden Jahr ein gedämpftes Wirtschaftswachstum in den meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Die Rezessionssorgen scheinen abgeschüttelt, gerade in den USA, wohingegen der Euroraum sich zumindest „technisch“ wohl in einem Konjunkturabschwung befindet. Allerdings entfalten sich die Bremswirkungen der geldpolitischen Straffung fortgesetzt während wir gleichzeitig mit einem strukturell schwächeren Wachstumstrend rechnen angesichts anhaltender Produktionshemmnisse (u.a. getrieben durch demografischen Gegenwind und die Neuverkabelung der Weltwirtschaft).
Der Hochpunkt der Inflation wurde bereits im Jahr 2022 erreicht, gefolgt von deutlichen Fortschritten im Jahr 2023, im Euroraum etwa von 10,6% im Oktober 2022 auf 2,4% im November 2023. Doch der unterliegende Inflationsdruck bleibt hartnäckig. Wir rechnen dabei unverändert mit einer Achterbahnfahrt bei der Inflation, gerade in den USA. Selbst nach Lesart der EZB könnte die Inflation auf kurze Sicht wieder anziehen. Für den Monat Dezember (veröffentlicht Anfang Januar) ist eine Gesamtinflationsrate von über 3% nicht auszuschliessen. Eine Gewichtsänderung im Warenkorb bei Pauschalreisen spielt eine Rolle.
Das grössere Bild bleibt: Die Gesamtinflation könnte im Jahr 2024 auf die Preisstabilitätsmarke der EZB von 2% sinken oder diese sogar vorübergehend unterschreiten, da die Auswirkungen des Energieschocks des letzten Jahres nachlassen. Die meisten Inflationsmessgrössen haben sich stärker als erwartet abgeschwächt und die Wirtschaftstätigkeit bleibt gedämpft, was sich auch in den überarbeiteten Prognosen der EZB widerspiegelt. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns in einer strukturell anderen Welt mit hartnäckig hohem unterliegenden Kostendruck bewegen, was mittelfristig wieder deutlicher zum Vorschein kommen könnte. Der Arbeitsmarkt bleibt fest – Stichwort demografischer Wandel und schrumpfende Erwerbsbevölkerung – und die Lohnentwicklung dürfte das Abwärtspotenzial bei der Dienstleistungsinflation begrenzen. Im Euroraum wird es wahrscheinlich bis zu den Lohnverhandlungen im Frühjahr 2024 dauern, bis die „datenabhängige“ EZB zuversichtlich ist, dass die Inflation dauerhaft auf 2% zurückkehrt. In den USA wird der nächste Lackmustest der Dezember-Arbeitsmarktbericht sein, der am 5. Januar veröffentlicht wird. Unsere Erwartung: Der US-Arbeitsmarkt kühlt sich allmählich ab, bleibt aber weiterhin fest. Mittelfristig könnte sich in den USA die Kerninflation bei 2,5% einpendeln, im Euroraum bei etwa 2%, d.h. rund ein Prozentpunkt höher als in den Jahren 2010-2019 vor Ausbruch der Pandemie.
2023 dürfte als Jahr der Leitzinsgipfel in die jüngere Geschichte eingehen (Zinskorridor von 5,25%-5,50% in den USA, Einlagensatz von 4% im Euroraum) nach einer wohlgemerkt in Umfang und Geschwindigkeit beispiellosen Zinsstraffung. 2024 wird das Jahr der Zinswende sein. Der Schwerpunkt der Marktdebatte hat sich dabei verlagert zum Zeitpunkt der ersten Zinssenkung, den konkreten Bedingungen aus Sicht der Notenbanken dafür, auf den Umfang des Zinssenkungszyklus und dessen Geschwindigkeit. In allen drei Dimensionen haben die Märkte bereits viel vorweggenommen. Wir bleiben skeptisch, dass Fed und EZB die Zinsen so schnell senken werden, wie die Märkte es derzeit erhoffen, selbst wenn der Zeitpunkt für die erste Zinssenkung näher rückt. Der Zinssenkungsspielraum der Fed und EZB bleibt begrenzt.
Wir erwarten vor diesem Hintergrund eine anhaltende Volatilität an den Anleihemärkten und bleiben bei unserer taktisch neutralen Haltung gegenüber Staatsanleihen des Euroraums und der USA. Der jüngste Renditerückgang und die damit einhergehenden Kursgewinne begrenzen das Potenzial für Anleihen nächstes Jahr. Eine Reihe von Zutaten würden für eine Fortsetzung Rallye am Anleihenmarkt benötigt: anhaltend schwächere Konjunkturdaten, das Ausbleiben unerwarteter weiterer Fortschritte bei der Inflation und eine noch stärkere Haushaltskonsolidierung im Euroraum als derzeit ohnehin erwartet, was mit einem geringeren Anleihenangebot einherginge.
Anders gestaltet sich die Situation in Japan, wo die Bank of Japan bislang weitestgehend an ihrer lockeren Geldpolitik festhält. Zwar erwartet der Konsens für die Notenbanksitzung am Dienstag keine weitere Änderung der Zinsstrukturkurvenkontrolle, jedoch ist im Laufe von 2024 mit einer fortgesetzten Normalisierung der Geldpolitik zu rechnen. Die japanische Inflation hat sich, nach den vielen Jahren mit zu niedriger Inflation, in den vergangenen Monaten bei knapp über 3% eingependelt, deutlich über dem Inflationsziel.
Insgesamt befinden wir uns in einem neuen Marktregime, was aber auch zahlreiche Anlagemöglichkeiten bietet. Wie können Investoren aus den „Makro-Zitronen“ (niedrigeres Trendwachstum, strukturell höhere Zinsen und hartnäckiger Inflationsdruck) dennoch eine schmackhafte „Investment-Limonade“ zaubern? Mithilfe eines dynamischen, selektiveren Ansatz, wie in unserem globalen Ausblick für 2024 dargelegt.
Mit diesem letzten Marktausblick für das Jahr 2023 wünschen wir Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in ein gesundes, zufriedenes neue Jahr!