Von Martin Lück, Leiter Kapitalmarktdtrategie BlackRock
Dass wir in historisch besonderen Zeiten leben, wird schon beim Blick in die Abendnachrichten deutlich. Globale Krisen wie Pandemie und Krieg scheinen sich nahtlos abzulösen. Kaum erscheint eine Krise halbwegs beigelegt, erscheint schon die nächste am Horizont. Es ist daher nicht überraschend, wenn in einem derart unsicheren Umfeld auch Finanzmarktprognosen vorsichtiger ausfallen. Und wenn die Teilnehmer an ebendiesen Märkten nach Orientierung suchen, schauen sie auf die Historie. Wie haben sich die Kurse von Aktien, Anleihen und Gold in der Vergangenheit entwickelt, wenn Wachstum und Inflation in diese oder jene Richtung gelaufen sind? Und welche Muster kann man eventuell auf die gegenwärtige Situation übertragen?
Die ernüchternde Erkenntnis lautet: Man hätte die Besonderheiten unserer heutigen Zeit, mit einer gerade überstandenen Jahrhundertpandemie, dem brutalsten Angriffskrieg seit dem Zweiten Weltkrieg oder einer Menschheitsherausforderung wie dem Klimawandel überhaupt nicht gebraucht, um festzustellen, dass historische Vorbilder zur Ableitung von Finanzmarktprognosen nur begrenzt taugen. Schon der Blick auf die Verwerfungen der letzten Jahrzehnte macht deutlich, dass jede Rezession, jede Krise, jeder Crash ganz eigene Spezifika aufwies, die im aktuellen Kontext in dieser Form nicht gelten. Fakt ist allerdings auch, dass die gegenwärtig zusammenkommenden Brüche noch stärker als sonst ein Infragestellen von Kausalketten, die bis dato als allgemein gültig erachtet wurden, erfordert.
Die seit längerem anhaltende Diskussion um das Ob, Wie und Wann einer möglichen Rezession in den USA zeigt dies ganz deutlich. Noch im Schlussquartal 2022 galt eine Rezession als ausgemacht. Die Fed hatte seit März den Leitzins um sagenhafte 4,5 Prozentpunkte angehoben, darunter auf vier Sitzungen hintereinander um jeweils 75 Basispunkte. Dass die US-Wirtschaft diesen steilsten Zinsanstieg seit 1980 ohne Schrumpfung des BIP überstehen würde, erschien sehr unwahrscheinlich. Als sich dann Anfang dieses Jahres zeigte, dass die Wirtschaft bis in das vierte Quartal hinein sehr robust geblieben war, fassten Marktteilnehmer Zuversicht. Die Erwartung einer sanften Landung gewann an Unterstützung, schien doch der Konsum, mit rund zwei Dritteln Hauptstütze der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, kaum Anzeichen von Schwäche abzugeben – trotz all der Zinsanhebungen.
Erst die Verwerfungen um die Silicon Valley Bank im März machten klar, dass die Verschärfung der Finanzierungsbedingungen nicht ohne Folgen bleiben würde. Zwar traten die Bremsspuren der Zinserhöhungen (und zudem einer markanten Verknappung der Bankenliquidität mittels ‚Quantitative Tightening‘, ein oft unterschätzter Zusatzeffekt) an anderer Stelle auf als erwartet. Zwar ging als Folge der monetären Straffung nicht wie gedacht der Konsument als erster in die Knie, sondern besonders exponierte Finanzinstitute. Aber nun war klar, dass höhere Zinsen und knapperes Geld nicht ohne Folgen bleiben konnten. Und wenn jetzt der Aderlass von Depositen in den Bankbilanzen sich fortsetzt, was angesichts des enormen Unterschiedes zwischen Einlagezinsen von Banken und der Verzinsung etwa von Geldmarktfonds (aktuell sage und schriebe rund vier Prozentpunkte) weiter der Fall sein dürfte, dann wird dies zwangsläufig wachstumsdämpfende Folgen haben, mit anderen Worten die Rezessionswahrscheinlichkeit erhöhen. Ganz abgesehen davon, dass der Immobilienmarkt bereits massive Schwächesignale aussendet. Die jüngsten Daten bezüglich der Baubeginne und -genehmigungen, aber auch der Hypothekenanträge, veröffentlicht in der vergangenen Woche, sind allesamt ins Negative gekippt und deuten auf eine ausgeprägte Kontraktion im Baubereich hin. Es wäre überraschend, wenn sich dies über die nächsten Quartale nicht auch im Ausgabeverhalten der Konsumenten widerspiegeln würde.
All dies ist keineswegs verwunderlich. Denn in die historische Perspektive eingeordnet zeigt es einmal mehr, dass jede Phase der Wirtschaftsgeschichte ihre eigenen Gesetze hat. Keine Rezession der letzten Jahrzehnte hatte die gleichen Auslöser, keine entsprach dem, was Volkswirte in ihren Lehrbüchern als das typische Auf und Ab des Konjunkturzyklus beigebracht bekommen. Erinnern wir uns beispielhaft an die Verläufe des Dot Com-Crashs, der grossen Finanzkrise 2008 oder der Corona-Rezession. Sie alle waren völlig unterschiedlich. Was Zeitpunkt und Schwere der vermutlich anstehenden Rezession in den USA allerdings noch weniger prognostizierbar macht als in der Vergangenheit ist die Tatsache, dass es Veränderungen im Verhalten der Wirtschaftsakteure geben könnte, die sich aus den grossen Herausforderungen der Zeit (Klimawandel, Neusortierung des Welthandels etc.) ergeben und damit die Wirkungsweise der Fiskal- und Geldpolitik strukturell verändert haben könnten.
Was holt die Märkte aus ihrer entspannten Ruhe?
Damit wären wir bei der Frage, welches Ereignis die Finanzmärkte wieder unruhiger werden lassen könnte. Zuletzt war die Volatilität bemerkenswert niedrig. Aber sowohl Geld- als auch Fiskalpolitik haben Ereignisse in petto, die recht schnell die Risikowahrnehmung wieder hochschnellen lassen könnten. Auf Seiten der Geldpolitik könnte dies weiter hohe Inflation sein, die dazu führt, dass sich Marktteilnehmer von der Aussicht auf baldige Zinssenkungen verabschieden müssen. Und bei der Fiskalpolitik droht der Evergreen der US-Schuldengrenze. Schon Ende Juni könnte den US-Behörden das Geld ausgehen, die Steuereinnahmen lagen zuletzt 35% unter dem Vorjahreswert. Angesichts der verhärteten Fronten in der US-Politik hätte auch das sich abzeichnende Gezerre um das‚ ‘Debt Ceiling‘ das Zeug, schon in den kommenden Wochen die Unruhe an den Märkten zurückzubringen. (BlackRock/mc/ps)