Von Ann-Katrin Petersen, CFA, Senior-Kapitalmarktstrategin BlackRock
Der US-Aktienmarkt, gemessen am S&P 500, trat in der vergangenen Handelswoche auf der Stelle, während die europäische Börse, gemessen am EuroStoxx50, im Nachgang des Zinsentscheids der Europäischen Zentralbank (EZB) Zuwächse von rund 1,4% verzeichnete. Der Euro-Wechselkurs notierte per Wochenabschluss um knapp 0,5% schwächer.
In einer knappen Entscheidung hatten die Notenbanker im Frankfurter Ostend am Donnerstag ihre Leitzinsen zwar erneut um 25 Basispunkte angehoben und damit auf seit Gründung des Euroraums 1999 nie gesehene Niveaus befördert. Allerdings handelte es sich um einen „taubenhaft“ anmutenden Zinsschritt: EZB-Präsidentin Christine Lagarde signalisierte, dass dies wahrscheinlich die letzte Zinserhöhung in einem wohlgemerkt aussergewöhnlich scharfen geldpolitischen Straffungszyklus sein werde („…dass die EZB-Leitzinsen ein Niveau erreicht haben, das – wenn es lange genug aufrechterhalten wird – einen erheblichen Beitrag zu einer zeitnahen Rückkehr der Inflation auf den Zielwert leisten wird.“). Seit Juli 2022 haben die Währungshüter die Leitzinsen damit im Kampf gegen Inflationsrisiken zehnmal um insgesamt 450 Basispunkte angehoben, auf einen Einlagenzins von 4,0% und Hauptrefinanzierungssatz von 4,5%.
Nun verlagert sich der Fokus von der Frage der Höhe der Leitzinsen hin zur Frage, wie lange diese auf restriktiven Niveaus verharren. Unsere Einschätzung: Auf den Leitzinsgipfel dürfte ein Zinsplateau folgen, kein baldiges Zurückrutschen ins Tal der Niedrigzinsen. Zweifelsohne wurden Fortschritte bei der Inflationsbekämpfung erzielt, die 2%-Preisstabilitätsmarke der EZB ist allerdings noch nicht erreicht. Wir gehen davon aus, dass der (unterliegende) Inflationsdruck im Euroraum angesichts eines angespannten Arbeitsmarkts und gedämpfter Produktivität auf absehbare Zeit weiterhin hartnäckig so hoch ausfällt, so dass die EZB erst weit ins Jahr 2024 eine Zinssenkung wagen wird. So signalisierten die jüngsten makroökonomischen EZB-Projektionen, dass die durchschnittliche Inflation im Jahr 2025 immer noch leicht über der Zielmarke liegen könnte (2,1%), nach 5,6 % in diesem und 3,2% im Jahr 2024. Mit anderen Worten: Der Kampf gegen die zu hohe Inflation im Euroraum ist noch nicht gänzlich gewonnen. Erkenntnisreich wird sein, ob die im Dezember veröffentlichten EZB-Projektionen für das Jahr 2026 „endlich“ wieder zielkonform ausfallen.
Konjunktur: Euroraum-Frühindikatoren fortgesetzt trübe
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass ein weiteres „Finetuning“ am Zinsplateau möglich wäre. Präsidentin Lagarde schloss eine weitere Anhebung im Falle überraschender Daten zu Inflationsaussichten, der Dynamik der zugrunde liegenden Inflation und Stärke der geldpolitischen Transmission nicht vollständig aus (Stichwort „Datenabhängigkeit“). Dieser erwartbare Disclaimer fällt jedoch in die Kategorie „gute Zentralbankerpflicht“, denn die Messlatte für ein noch höher liegendes Zinsplateau hängt äusserst hoch. So senkten die EZB-Experten ihre Wachstumsprognosen zwar deutlich, rechnen aber nach wie vor nicht mit einer Rezession. Dabei tritt die Bremswirkung der beispiellosen geldpolitischen Straffung immer spürbarer zutage. Die Finanzierungsbedingungen haben sich weiter verschärft und dämpfen zunehmend die Binnennachfrage. Gepaart mit einem anhaltenden Lagerabbau und der nachlassenden Wachstumsdynamik im wichtigsten Exportmarkt Ostasien verdichten sich die Hinweise auf eine Konjunkturdelle in den kommenden Quartalen. Bereits die Einkaufsmanagerindizes für den Monat August hatten wenig Interpretationsspielraum darüber zugelassen, wie es um die Wirtschaft in der Eurozone steht. Nach der Industrie wies auch Dienstleistungsgewerbe Rezessionssymptome auf (der Index sank im August zum vierten Mal in Folge auf 48,3 Punkte). Beide Stimmungsbarometer dürften im September (am Freitag veröffentlicht) deutlich unterhalb der Expansionsmarke von 50 Zählern verharren.
Mit Blick auf die Zukunft könnte die EZB ihren Policy-Mix anpassen und versuchen, ihre Geldpolitik zunehmend mithilfe bilanz- statt zinspolitischer Instrumente restriktiv auszurichten: Sie könnte die quantitative Straffung beschleunigen (d.h. ihr 1,7-Euro- Billionen schweres Obligationenportfolio schneller abschmelzen lassen), indem sie das Ende der Reinvestitionen im Rahmen des sog. PEPP-Programms (Pandemie-Notfallankaufprogramm; Pandemic Emergency Purchase Programme) vorzieht. Eine geringere Zentralbanknachfrage nach Staatsobligationen wäre von Belang nicht zuletzt in einem fiskalpolitischen Umfeld, in dem die Gürtel ab dem kommenden Jahr wieder enger geschnallt werden sollen. Fast vier Jahre lang waren vor dem Hintergrund von Pandemie und Energiekrise die strikten EU-Fiskalregeln ausser Kraft gesetzt worden, um es den Finanzministern zu ermöglichen, die Konjunktur zu stützen. Nun stehen die in Berlin, Paris, Rom, Madrid und anderen Hauptstädten festgezurrten Haushaltspläne wieder verstärkt unter der kritischen Beobachtung Brüssels. Und aktuell verzeichnet etwa die Hälfte der EU-Mitgliedsländer Neuverschuldungsquoten oberhalb der Schwelle von 3% der Wirtschaftsleistung. In Italien verdichteten sich zuletzt die Hinweise auf eine merkliche Aufwärtsrevision der Defizite. Gleichzeitig ist die geplante Reform der EU-Fiskalregeln, die mit einer grösseren Flexibilität einhergehen soll, was laut Beobachtern insbesondere Frankreich, Italien und Spanien zugutekäme, noch nicht in trockenen Tüchern.
Geldpolitik: Vom Zinsgipfel zum Zinsplateau, mit Ausnahme Japans
In der kommenden Woche richtet sich das Augenmerk auf die Zinsentscheidungen weiterer grosser Zentralbanken, darunter die US-Notenbank Fed (Mittwoch), Bank of England und Schweizerischer Nationalbank (Donnerstag) und Bank of Japan (BoJ) (Freitag). Mit Ausnahme Japans scheint der Zinsgipfel in allen Regionen zu nahen.
Eine Anpassung des japanischen Leitzinses von derzeit – 0,1% käme überraschend. Laut einer Bloomberg-Umfrage rechnen alle teilnehmenden 46 BoJ-Beobachter mit einer ruhigen Hand. Allerdings könnte die BoJ eine mögliche mittelfristige Änderung ihrer Negativzins-Politik in Aussicht stellen. Auf die Goldwaage sollte daher gelegt werden, welche Worte Gouverneur Kazuo Ueda in der Pressekonferenz wählt. In den letzten Wochen hatte am Markt eine gewisse Verwirrung über die Absichten Uedas geherrscht. Denn in einem Interview mit der Zeitung Yomiuri schien der Notenbankchef anzudeuten, dass das Potenzial für einen Anstieg der Löhne und Preise hinreichend klar sei, um über die Abschaffung der Negativzinsen nachzudenken. Aber „mit der Angelegenheit vertraute Personen“ teilten anschliessend über die Presse mit, dass es sich dabei um allgemeine Kommentare gehandelt habe, die nicht als Marktorientierung verstanden werden sollten. Daher ist die Sitzung am Freitag wichtig – um die klarstellenden Bemerkungen zu klären.
In den USA wiederum liegt nach kräftigen Zinserhöhungen von insgesamt 525 Basispunkten der Leitzinskorridor von 5,25-5,50% mittlerweile zumindest ungefähr dort, wo er nach Ansicht der US-Notenbanker hingehört. Mit einer Verschnaufpause im Juni, gefolgt von einem erneuten Zinsschritt in Höhe von 25 Basispunkte im Juli hat die Fed das Straffungstempo bereits zurückgenommen. Der Geldmarkt preist die Chance für eine letzte US-Zinserhöhung dieses Jahr allerdings noch bei etwa 40%. Aufschlussreich sollte einmal mehr der „Dot Plot“ sein, also die Einschätzung der US-Notenbanker hinsichtlich des angemessenen Leitzinspfades. Eine unveränderte Median-Einschätzung von 5,6% per Ende 2023 entspräche einer weiteren Zinserhöhung von 25 Basispunkten bei nur noch zwei weiteren Entscheiden in diesem Jahr.
Zweifelsohne war die jüngste Abschwächung des Inflationsdrucks in den USA eine gute Nachricht. Die jüngsten Kerninflationswerte sind aus dem aufwärtsgerichteten Muster der letzten zwei Jahre ausgebrochen. Die Teuerung unter Ausschluss von Nahrung und Energie fiel im August weiter auf 4,3%. Dies stellt einen echten Fortschritt dar und zeigt, dass der pandemiebedingte Schock bei den Konsumausgaben für Waren und Dienstleistungen nachlässt. Weitgehend unbemerkt befindet sich die US-Wirtschaft bereits seit eineinhalb Jahren in der Stagnation, gemessen am Durchschnitt gängiger Wachstumsmassstäbe. Sollte die US-Wirtschaft wie von uns erwartet ein weiteres Jahr lang weitgehend stagnieren, handelte es sich, abgesehen von der globalen Finanzkrise 2008/09, um die schwächste zweijährige Wachstumsphase in der Nachkriegszeit.
Gleichzeitig rechnen wir mit einem schwankungsreichen US-amerikanischen Inflationspfad, was wiederum zu erratischen Zinserwartungen beitragen könnte. Denn während ein Schock nachlässt, scheint ein zweiter – die alternde Erwerbsbevölkerung – bereit, das Zepter schrittweise zu übernehmen. Dies wiederum könnte die Inflation auf eine Achterbahnfahrt schicken. Denn es entstehen immer noch mehr Arbeitsplätze, als Personen neu auf den Arbeitsmarkt drängen. Eine alternde Erwerbsbevölkerung bedeutet unseren Schätzungen zufolge, dass die US-Wirtschaft bald voraussichtlich nur noch in der Lage ist, die Schaffung von rund 70.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen pro Monat aufrechtzuerhalten, ohne die Inflation anzuheizen. Daher gilt unseres Erwachtes: Sofern sich das Beschäftigungswachstum von hier aus nicht weiter deutlich abschwächt oder es zu einem überraschenden Anstieg der Produktivität oder der Einwanderung in den USA kommt, könnte der Arbeitskräftemangel Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres zu einem erneuten Lohndruck führen und sich zu einer Quelle anhaltender Inflation entpuppen. Das bestärkt uns in der Ansicht, dass auch in den USA auf den Zinsgipfel ein Zinsplateau folgen könnte.
Taktische Positionierung: Investieren am Zinsplateau
Was bedeutet all dies für die Finanzmärkte?
Das Ende der Zinserhöhungszyklen der EZB und Fed scheint erreicht oder naht. Doch halten die Notenbanken die Zügel im Kampf gegen den hartnäckigen unterliegenden Inflationsdruck straff. Dies stellt eine grundlegende Veränderung gegenüber dem Niedrigzinsumfeld vor der Pandemie dar. Die Attraktivität von Zinseinkommen in Portfolios ist vor diesem Hintergrund gestiegen, wobei es auch am Rentenmarkt zu differenzieren gilt. Gleichzeitig ist nach wie vor mit geldpolitischen Bremsspuren für Konjunktur und Unternehmensgewinne in den USA und Europa zu rechnen. Wohlgemerkt in einem Marktumfeld, in dem steigende Bewertungen seit Jahresbeginn mehr als 80% der weltweiten Aktienrenditen ausmachen und das Gewinnwachstum nur etwa 4% betrug.
Am Rentenmarkt bevorzugen wir nach wie vor Staatspapiere mit kürzeren Laufzeiten. Bei längeren Laufzeiten bonitätsstarker Zinspapiere mögen wir taktisch, d.h. mit Blick auf die kommenden sechs bis zwölf Monate, europäische gegenüber US-Staatsobligationen und haben erstere jüngst auf ein moderates Übergewicht heraufgenommen. Unserer Ansicht nach ist die Marktbepreisung des langfristigen Leitzinspfads im Euroraum und in Grossbritannien im Vergleich zu den USA überzeichnet – bei einem gleichzeitig unterschätzten anhaltenderen und volatileren Inflationsdruck in den USA. Unsere Untergewichtung langfristiger US-Staatsobligationen, die das BlackRock Investment Institute (BII) seit rund drei Jahren vertritt, als die Renditen noch unter 1% lagen, hat gute Dienste geleistet. Letzten Monat kletterten die 10-jährigen Renditen auf 16-jährige Höchststände von über 4%. Wir gehen unverändert davon aus, dass die von Investoren geforderten Laufzeitprämien noch weiter steigen könnten. Bei bonitätsstarken Unternehmensobligationen wiederum nutzen wir engere Spreads für Gewinnmitnahmen.
Bei risikoreicheren Anlageklassen mag das schwankungsreichere Umfeld, geprägt von hohen Zinsen, abgebremstem Wirtschaftswachstum in Europa und den USA und hartnäckigem Inflationsdruck den Anschein haben, nur wenige Renditechancen zu bieten. Dennoch sehen wir zahlreiche, auch in einem Umfeld weniger rosig daherkommender gesamtwirtschaftlicher Perspektiven.
Zum einen erfordert dieses Umfeld, in dem mitunter gilt „macro is not your friend“ (auf Beta ist weniger Verlass), differenziertere Einschätzungen, gezieltere Engagements und eine höhere Flexibilität, während gleichzeitig die höhere Streuung am Markt Fingerspitzengefühl bei der Anlage entlohnt. Beispielsweise hat der gleichgewichtete S&P 500 in diesem Jahr nur etwa 4% zulegt, während der „klassische“ S&P 500 dieses Jahr um knapp 16% gestiegen ist. Mit anderen Worten weist lediglich eine Handvoll von hochkapitalisierten US-amerikanischen Unternehmen eine bemerkenswerte Marktperformance auf. Innerhalb des Aktienuniversums der Industrieländer stehen wir dem japanischen Aktienmarkt konstruktiv gegenüber dank eines spürbar aktionärsfreundlicheren Ansatzes japanischer Unternehmen, gepaart mit vergleichsweise attraktiven Bewertungen und der Erwartung, dass die Normalisierung der ultra-lockeren Geldpolitik der BoJ nur allmählich vonstattengehen wird. Nicht zuletzt könnten die geplanten Steueranreize ab Januar 2024, die die japanische Sparer dazu ermutigen sollen, ihr liquides Vermögen von Bargeld in Investitionen umzuschichten, Investoren im Inland als nächsten wichtigen Käufer auf die Bildfläche katapultieren. Wir stufen Japan weiter auf eine Übergewichtung hoch. Aktien aus Schwellenländern setzen wir angesichts einer kurzfristig weniger überzeugenden Wachstums- und Gewinndynamik auf eine taktisch neutrale Positionierung herab und bevorzugen Schwellenländerobligationen.
Zum anderen bieten strukturelle „Megaforces“ aus unserer Sicht spannende regionen- und sektorenübergreifende Anlagechancen. Zu diesen strukturellen Verschiebungen, die mit merklichen Rentabilitätsverschiebungen einhergehen dürften, zählen digitale Disruption und künstliche Intelligenz (KI), ein aus unserer Sicht spannendes, mehrjähriges Investmentthema. (BlackRock/mc/ps)