Von Ann-Katrin Petersen, Leiterin Kapitalmarktstrategie Deutschland, Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Die überraschend niedrig ausgefallenen US-Inflationszahlen für Juni und damit verbundene Zinssenkungshoffnungen gaben letzte Woche den Takt für die Märkte vor. Renditen von US-Staatsanleihen, aber auch deutschen Bundesanleihen sanken, angeführt von kürzeren Laufzeiten, die eng mit dem geldpolitischen Ausblick verknüpft sind. Der US-Dollar gab nach. Die globalen Aktienmärkte schlossen im grünen Bereich, wobei in den USA erneut Rekorde verbucht wurden (Quelle: LSEG, 12.07.2024).
Börsen: Bleibt die sommerliche Ruhe aus?
Der Geldmarkt preist eine Leitzinssenkung der US-Notenbank Fed um 25 Basispunkte im September inzwischen (wieder) voll ein – und sieht steigende Chancen auf bis zu drei Schritte bis Jahresende (Quelle: LSEG, 12.07.2024). Allerdings halten wir das jüngst vermeldete Inflationsniveau angesichts des anhaltenden Lohndrucks für unhaltbar niedrig. Dass der Renditerückgang einen Anstieg bei Small-Cap-Aktien beflügelte und zeitweilige Rücksetzer bei Technologieaktien auslöste, spiegelt mitunter wider, dass die Börsen in ohnehin (geo-)politisch bewegten Zeiten wieder schwankungsreicher ausfallen können.
Transformation: Fokussierte Gruppe von KI-Gewinnern derzeit plausibelstes Szenario
Das grosse Bild: Angesichts einer Reihe von strukturellen Umbrüchen, darunter der geopolitischen und weltwirtschaftlichen Ordnung, könnte die Welt eine Transformation erleben, die der industriellen Revolution ebenbürtig ist. Der Wettlauf um den Ausbau der künstlichen Intelligenz (KI), die Umstellung auf eine kohlenstoffärmere Wirtschaft und eine auf Resilienz gemünzte Neuausrichtung der globalen Lieferketten werden unserer Ansicht nach beträchtliche Investitionen mit sich bringen.
Allerdings sind die Geschwindigkeit, das Ausmass und die Auswirkungen dieser Investitionen höchst ungewiss. Es dauerte fast ein Jahrhundert, bis die Dampfmaschine die Produktivität steigerte – und Jahrzehnte, bis sich die Computer- und Technologierevolution der 1970er-80er Jahre auszahlte. Schätzungen zufolge werden die Investitionen in KI-Rechenzentren in den kommenden Jahren jährlich um 60-100 % steigen. Doch selbst in dieser ersten Phase des KI-Schubs ist es nicht trivial, den tatsächlichen Umfang festzuzurren. Dass Ressourcen teilweise knapp sind, spielt eine wesentliche Rolle. Damit verbunden ist die Herausforderung, den Energie- und Rohstoffbedarf von KI zusätzlich zur bereits steigenden Nachfrage im Rahmen der Elektrifizierung zu decken. Daher könnte der Ausbau von KI zunächst inflationär wirken. Wir glauben, dass Märkte und Zentralbanken die inflationären Auswirkungen dieser frühen Phase unterschätzen. Prognosen, wie sehr KI letztlich das jährliche US-Wachstum steigert, reichen von 0,1 bis 1,5 Prozentpunkten. Mittelfristig halten wir den unteren Bereich für realistischer.
Dieser sich abzeichnende Investitionsboom findet in einem ungewöhnlichen Wirtschaftsumfeld statt: zähe Inflation, höhere Zinsen, schwächeres Trendwachstum und hohe Staatsverschuldung. Die Anlagemöglichkeiten gehen über diesen makroökonomischen Hintergrund hinaus. So stach die Wertentwicklung von US-Aktien im ersten Halbjahr 2024 im Vergleich zu anderen Industrieländern hervor, obwohl die Märkte bis zu fünf Fed-Zinssenkungen auspreisten. Über den Erwartungen liegende Unternehmensgewinne, angeführt von einer Handvoll KI-Namen, spielten eine Rolle. Für uns bleibt das derzeit plausibelste Szenario eines, in dem zunächst eine fokussierte Gruppe von KI-Nutzniessern die Aktienkurse weiter antreiben können.
Werden sich Anleger eines Tages weniger über den nächsten Zinsentscheid von Fed und Europaeischer Zentralbank (EZB) den Kopf zerbrechen als Kipppunkte der Transformation? Denkbar. Apropos: Am Donnerstag sollte die EZB ihre Zinsen unverändert lassen. Der Rat dürfte vielmehr auf Grundlage der im September vorliegenden Daten handeln, bei insgesamt begrenztem Zinssenkungsspielraum.
Anlageallokation: Drei Themen für das zweite Halbjahr
Drei Anlagethemen sind aus Sicht des BlackRock Investment Institute (BII) zentral:
Thema #1: Fokus Realwirtschaft
Wir erwarten, dass die Realwirtschaft gegenüber der Finanzwirtschaft an Bedeutung gewinnt. Denn Investitionen fliessen in Infrastruktur wie Fabriken und Logistikzentren, in Energiesysteme, darunter Solarparks und Superbatterien, und in Technologie. Im Gegensatz dazu ermöglichte vor der Pandemie die niedrige Inflation den Notenbanken, ihre Leitzinsen zu senken und erhebliche Wertpapierkäufe zu tätigen, um die Konjunktur anzukurbeln. Das stützte auch die Finanzwirtschaft – und trug zu Gewinnen sowohl bei Anleihen als auch Aktien bei. In diese Zeit des günstigen und reichlichen Kapitals werden wir wohl nicht zurückkehren.
Unternehmen werden ihre Geschäftsmodelle überarbeiten und in sie investieren müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Für Anleger bedeutet das, dass die Fundamentaldaten der Firmen noch wichtiger werden. Die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern könnte grösser sein als je zuvor. Diese Streuung schafft Chancen.
Thema #2: Risiken wohlüberlegt eingehen
Die Transformation könnte unterschiedliche Wege einschlagen und ein ungewöhnlich breites Spektrum an Ergebnissen hervorbringen. Anleger könnten daher versucht sein, in eine abwartende Haltung zu verfallen. Wir sehen jedoch die Möglichkeit, dass es sich enorm auszahlen könnte, wohlüberlegte Risiken einzugehen. Die Antwort auf breites Spektrum an Szenarien – und die Notwendigkeit, dynamisch auf Kipppunkte zu reagieren – ist unseres Erachtens nicht einfach eine Reduzierung von Risikobereitschaft. Das künftige Gewinnpotenzial kann dafür sprechen, jetzt Risikokapital einzusetzen.
Wir gehen davon aus, dass sich der Vormarsch von KI in drei Phasen abspielt. Zu den ersten Gewinnern dürften grosse Technologieunternehmen, Chiphersteller sowie Energie- und Versorgungsunternehmen gehören – bevor sich die Vorteile auf weitere Sektoren ausweiten. Wir bleiben in US-Aktien und dem Thema KI übergewichtet, halten jedoch die Bewertungen im Blick. In einer zweiten Phase könnten sich die Investitionen auf Unternehmen ausweiten, die die Leistungsfähigkeit von KI gezielt einsetzen. Die letzte Phase – potenzielle wirtschaftsweite Produktivitätsgewinne – ist in Ausmass und Geschwindigkeit höchst ungewiss.
Sowohl aktive Strategien als auch private Märkte – als eine Chance, an den frühen Entwicklungen von Unternehmen teilzuhaben, die bei einer möglichen raschen Transformation erfolgreich sein werden – könnten eine grössere Rolle spielen. Dies gilt insbesondere in einer Welt, in der hohe Schulden die Fähigkeit von Regierungen einschränken, in Infrastruktur zu investieren. Dennoch bleiben Privatmärkte auch heute noch komplex und sind nicht für alle Anleger geeignet.
Daneben sind wir bei britischen Aktien ein taktisches Übergewicht eingegangen und bleiben konstruktiv für Japan. Wir bevorzugen kurzfristige Anleihen als Einkommensquelle und Qualität bei Unternehmensanleihen.
Thema #3: Bereit für die nächste Welle
In einer Welt, in der mehrere, völlig unterschiedliche Entwicklungen möglich sind, können Anleger die zukünftigen Zustände nicht mehr als geringfügige Abweichungen von einem zentralen Szenario betrachten. Wir denken, dass die Betrachtung der Welt in mehreren Verteilungen – mit sehr geringer Überschneidung zwischen ihnen – eine bessere Methode ist, um das mögliche Ausmass der bevorstehenden Wellen der Transformation zu charakterisieren. Was bedeutet dies in der Praxis? Anleger sollten nach der nächsten Welle von Anlagechancen Ausschau halten – und bereit sein, ihre Portfolioallokation dynamisch anzupassen, um diese mitzunehmen.
Mit diesem Blick auf das zweite Halbjahr und darüber hinaus verabschiedet sich der Marktausblick in die Sommerpause. Die nächste Ausgabe wird am 3. September erscheinen. Wir wünschen allen Leserinnen du Lesern einen erholsamen Sommer.