BlackRock Marktausblick: «It’s the inflation, stupid!»

Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock. (Foto: zvg)

Von Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie BlackRock

Wenn man dem Konsensus der Marktflüsterer glaubt, ist die Sache klar: Die erste Jahreshälfte 2023 wird hart, dann aber kommt die Erholung. Dass sich in unsicheren Zeiten die Meinungen in der vermeintlich sicheren Mitte ballen und nur wenige sich mit extremen Meinungen weit hervorwagen, ist aus früheren Krisen bekannt. Was diesmal auffällt, ist die trotz grosser sonstiger Einigkeit bestehende Vielfalt an Einschätzungen bezüglich des Verlaufs der Inflation. Und die wird ziemlich sicher sehr wichtig, möglicherweise sogar entscheidend sein für das Wohl und Wehe an den Kapitalmärkten im nächsten Jahr. Frei nach dem Motto von James Carville, Bill Clintons legendären Wahlkampfstrategen 1992, ‚It’s the economy, stupid‘, könnte es also für 2023 heissen: It’s the inflation, stupid!

Trotz dieser jüngsten „Weihnachtsrally“ dürfte das Jahr 2022 aus Investorensicht als „annus horribilis“ in die Geschichte eingehen – geprägt von drastischen Kursschwankungen und einem parallelen Sinkflug an den globalen Aktien- und Obligationenmärkten. Seit Jahresbeginn haben nur wenige Anlageklassen, etwa Energierohstoffe und die US-Währung Dollar, eine positive Wertentwicklung verzeichnet.

Mit Blick auf die Inflation ist ohnehin bemerkenswert, wie schnell sich das Blatt gewendet hat. Im Nachgang der Finanzkrise noch hatte sich eine Welt herausgebildet, in der die Gefahr einer Deflation greifbarer erschien als das Risiko zu stark steigender Preise. Von der drohenden Japanisierung Europas war die Rede, echte Inflationsgefahr erschien als ein Gespenst aus der Vergangenheit. Erst der wirtschaftliche Neustart nach den Covid-Lockdowns beendete abrupt diese Phase, indem die schwungartig zurückkommende Nachfrage ein pandemiebedingt begrenztes Angebot überforderte und, wenig überraschend, die Preise merklich anzuziehen begannen. Anders als heute oft suggeriert liegt also der initiale Impuls für die gegenwärtige Inflation nicht in den Energiepreisen, sondern im Missverhältnis von Angebot und Nachfrage im post-Corona-Neustart, befördert durch die Tatsache, dass Unternehmen damals ihre üppigen Preisüberwälzungsspielräume ausnutzten und Verbraucher wegen der im Lockdown erzwungenen Ersparnisse in der Lage waren, die erhöhten Preise auch zu zahlen. Hierbei ist es interessant, den Inflationsimpuls in Europa und den USA zu vergleichen. So dürfte in den USA durch die sehr grosszügige Fiskalpolitik der späten Trump- und frühen Biden-Regierungen, etwa durch Konsumschecks, die den Menschen nach Hause geschickt wurden, eine noch weiter vom Angebotspotenzial entfernte Übernachfrage ausgelöst worden sein als in Europa. Folgerichtig stiegen die Verbraucherpreise in den USA, vor allem seit Anfang 2021, zunächst schneller an. Im Sommer 2021 erreichte der Abstand in der Inflationsdynamik seinen höchsten Stand; um 3,4 Prozentpunkte schneller expandierte damals das Verbraucherpreisniveau in den Vereinigten Staaten. Später holte Europa auf. Lieferkettenengpässe, die sich im europäischen Geschäftsmodell stärker bemerkbar machten als in den wenig exportabhängigen USA, zunehmend aber auch steigende Energiepreise mit Blick auf die russische Truppenkonzentration an der Grenze zur Ukraine in der zweiten Jahreshälfte, liessen die europäische Inflationsrate zur amerikanischen aufschliessen. Ab Februar 2022 schliesslich, dem Monat der russischen Invasion, gleichzeitig den erneuten Lockdowns und Lieferkettenstörungen in Ostasien, beschleunigte sich die europäische Inflationsdynamik. Im Juli war die Inflation auf dem alten Kontinent erstmals höher als auf dem neuen, und das ist bis heute so geblieben.

Was sagt uns dieser Vergleich? Zum einen, dass die gegenwärtig zu beobachtende Inflation in Europa offenbar stärker von Angebotsknappheiten getrieben wird als in den USA, wo sich das im post-Covid-Neustart erzeugte Nachfragefeuerwerk nur langsam normalisiert. Zweitens, dass die Angebotsknappheiten, die sich zweifellos auch in der amerikanischen Inflationsrate widerspiegeln, vermutlich zum Teil vom Arbeitsmarkt herrühren und damit anders als in Europa eher strukturelle Ursachen haben, nämlich demographische Veränderungen. Beide Unterschiede dürften bedeuten, dass die Inflationsdynamik sich in den USA als zäher erweisen könnte. Es ist nicht auszuschliessen, sogar wahrscheinlich, dass die europäische Inflationsrate, die derzeit klar oberhalb der amerikanischen steht (zuletzt 10,0% in Europa, 7,7% in den USA) wieder unter die US-Rate zurückfällt, sobald die Basiseffekte voll durchschlagen. Hiermit können wir etwa ab dem zweiten Quartal 2023 rechnen. Wenn dieses Bild zutrifft, hätte es mit grösster Wahrscheinlichkeit auch Auswirkungen auf die Politik der beteiligten Zentralbanken.

EZB dürfte früher von der Bremse gehen als Fed
Sollte tatsächlich die Inflationsrate in Europa schneller und weiter sinken als in den USA, spricht vieles dafür, dass auch die EZB als erste den Fuss von der Zinsbremse nimmt. Dies könnte dadurch untermauert werden, dass eine tiefere Rezession in Europa die Nachfrage stärker dämpft, etwa infolge der grösseren Rohstoffabhängigkeit diesseits des Atlantiks. Besonders für die Positionierung im Anleihebereich dürfte dieses Szenario bedeutsam sein. Denn wenn in Europa die Inflation zunächst durch Basiseffekte und Rezession gedämpft und damit möglicherweise deren Dynamisierung und mittelfristiges Potenzial unterschätzt wird, könnten sich Richtung Jahresmitte interessante Perspektiven bei europäischen inflationsgeschützten Anleihen ergeben. Denn eines erscheint derzeit unstrittig: Die grossen strukturellen Veränderungen rings um die „drei Ds“ Demographie, Dekarbonisierung und Deglobalisierung sprechen dies- wie jenseits des Atlantiks für mittelfristig höheren Preisdruck.

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