BlackRock Marktausblick: Jahresendrally? Alle Jahre wieder
Von Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Der US-amerikanische Feiertag „Thanksgiving“ ist vorbei, und damit beginnt wie in jedem Jahr für Finanzmarktteilnehmer der Endspurt. Spätestens nachdem Millionen von amerikanischen Truthähnen ihr Leben ausgehaucht haben, geht traditionell die Spekulation um eine Jahresendrally an den Aktienmärkten los. Dabei ist die heutige Interpretation des Begriffs „Jahresendrally“ selbst quasi das Eingeständnis dafür, dass Untersuchungen des eigentlich gemeinten Zeitraumes, nämlich der letzten fünf Handelstage eines Jahres, keine überzeugenden Ergebnisse geliefert hatten.
So versteht heutzutage unter dem Begriff Jahresendrally jeder etwas anderes. Und genauso divers wie die Interpretationen sind auch die Gründe für oder wider besonders positive Kursentwicklungen an den Aktienmärkten gerade am Jahresende. So spricht tatsächlich die Aussicht auf neue Mittelzuflüsse im Januar, die etwa bei institutionellen Investoren wie Versicherungen oder Pensionskassen bei Neujahresbeginn zur Veranlagung anstehen, durchaus für einen positiven, liquiditätsgetriebenen Grundtrend. Auch die Überlegung, dass Window Dressing eine Rolle spielen könnte, dass also Unternehmen versuchen könnten, etwa durch Rückkauf eigener Aktien die Jahresendbewertung in ein gutes Licht zu rücken, klingt plausibel, lässt sich aber über längere Zeiträume bestenfalls anekdotisch nachweisen. Wenig überzeugend wirkt dagegen die immer wieder zu hörende Erklärung, ein Kursanstieg Richtung Jahresende könne darauf beruhen, dass Angestellte (in der Finanzbranche wie ausserhalb) ihre Jahresboni sofort in frische Aktienengagements investieren. Diese These kann zumindest ich nach über 30 Jahren in der Finanzindustrie nicht bestätigen. Denn noch nie habe ich einen Bonus schon im Dezember erhalten. Wenn überhaupt, wurde der stets erst Anfang Februar oder gar März gezahlt, und dies dürfte in den allermeisten Unternehmen ähnlich sein.
Und dennoch: Immer wieder kommen Untersuchungen langer Zeiträume zu dem Ergebnis, dass die Kursentwicklung von Aktien im Zeitraum November bis April signifikant besser ist als in den restlichen Monaten des Jahres. Allein schon die Tatsache, dass so viele Marktteilnehmer daran glauben und dass jedes Jahr wieder über dieses Thema spekuliert wird (wie gerade auch hier in dieser Kolumne), legt nahe, das Phänomen ernst zu nehmen. Denn Aktienmärkte sind zu einem erheblichen Mass von Herdenverhalten getrieben. Und es kann eine teure Erfahrung sein, sich gegen die energisch eingeschlagene Richtung einer grossen Herde zu stellen. Marktpsychologie toppt also Fundamentalanalyse? Sicher nicht immer und sicher nicht verlässlich.
Wenn aber die gesamtwirtschaftlichen Aussichten eher seitwärts laufen und – ganz besonders – der grösste Gegenwind für Volkswirtschaft und Unternehmen gefühlt hinter uns zu liegen scheint, ist selbst ein dürftiger Makroausblick kein Grund, die Herde von der Erwartung des üblichen Jahresendmusters abzuhalten. Will sagen: Zwar bietet der Ausblick auf das Wachstum in den grössten Volkswirtschaften der Welt wenig Grund zu überschäumendem Optimismus. In den USA etwa dürfte die 5% BIP-Rate (Bruttoinlandsprodukt) des dritten Quartals vor allem auf Sondereffekten beruhen, während die ostasiatische Wirtschaft nach enttäuschendem Post-Covid-Neustart immer noch unter der Schwäche des Immobiliensektors leidet und in Europa wenig Hoffnung auf einen Aufschwung aus eigener Kraft zu erkennen ist. Zumindest aber droht für die wahrscheinlichsten Szenarien in keiner dieser Volkswirtschaften eine tiefe Rezession, und allein das kann ausreichen, um Aktienanlegern Optimismus einzuhauchen. Denn schliesslich ist vielen Unternehmen zuzutrauen, auch in Zeiten mauer Umsätze ihre Margen auszuweiten. Unserer Einschätzungen nach, liegt genau diese Annahme mit Blick auf die Gewinnerwartungen für die nächsten zwölf Monate – grössenordnungsmässig rund plus 10% für die amerikanischen Leitindizes – dem konstruktiven Blick auf das Jahresende und darüber hinaus zugrunde.
Wird der Rückgang der Inflation zur Illusion?
Ein Gutteil der Aktienkursentwicklung seit Oktober ist auf die Hoffnung vieler Marktteilnehmer zurückzuführen, dass der Zinsanstieg mehr oder weniger sein Ende erreicht hat. Darauf deuteten auch die in der vergangenen Woche veröffentlichen Protokolle der letzten Sitzungen von der US-Notenbank Fed (Federal Reserve Bank) und EZB (Europäischen Zentralbank) hin, bei letzterer deutlicher als bei ersterer. Nun hängt das weitere Vorgehen der Notenbanken aber an der weiteren Inflationsentwicklung, und hier sind für diese Woche frische Zahlen zu erwarten. Während in den USA das von der Fed bevorzugte Inflationsmass, die Kernrate des Deflators für persönliche Konsumausgaben, kurz Core PCE (Personal Consumption ), laut unserer Einschätzung weiter von 3,7% auf 3,5% absinken und ihr europäisches Pendant ein ähnliches Bild (von 4,2% auf 3,9%) abgeben dürfte, könnte der noch steilere Rückgang der gesamten («Headline») Inflationsraten (erwartet werden 3,1% für US-PCE und 2,8% für die Verbraucherpreise in Europa) Investoren zu übertrieben positiven Erwartungen veranlassen. Denn mittelfristig spricht einiges, allen voran die oft zitierten strukturellen Veränderungen, für wieder anziehende Inflationszahlen.
Unserer Einschätzung nach könnte die Inflation tatsächlich, wie es Fed-Chairman Jerome Powell bereits vor einiger Zeit ankündigte, sinken und dann wieder steigen. Wenn dem so ist, könnte sich unserer Einschätzung nach, die Erwartung einer Beruhigung der Inflation auf 2% und entsprechend absehbare Zinssenkungen als Illusion erweisen. Und dann wäre wieder einmal der Start ins Aktienjahr, anders als in vielen Neujahrsausblicken derzeit verkündet besser, die Periode danach jedoch möglicherweise schwieriger als heute erwartet. Aus heutiger Perspektive, Ende November 2023, könnte dies unserer Einschätzung nach, tatsächlich bedeuten, dass die nächsten sechs Monate für Aktien nicht so schlecht werden. Mit oder ohne Jahresendrally.