BlackRock Marktausblick: Märchenhafte Börsen
Von Ann-Katrin Petersen, Leiterin Kapitalmarktstrategie Deutschland, Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Aktienmarktentwicklung: Märchenhaft
Die märchenhaft anmutende Wertentwicklung an den globalen Aktienmärkten hat sich fortgesetzt. Positiv überraschende Ergebnisse im Rahmen der Berichtssaison für das erste Quartal stützen dabei abermals insbesondere US-amerikanische Technologiewerte. Gleichzeitig hat die Schwankungsbreite nachgelassen. Die implizite Volatilität des VIX-Index[1] des S&P 500[2] markiert den tiefsten Stand seit 2019 (Datenquelle: LSEG, 24.05.2024). Allerdings bleibt die Grosswetterlage unbeständig – und Risikofreude mit Augenmerk angebracht.
Wie jedes Jahr zu Beginn des zweiten Quartals hat der Internationale Währungsfonds seinen Ausblick für die Weltwirtschaft veröffentlicht. Zweifelsohne sind es bewegte Zeiten, vor deren Hintergrund sich tausende Staatslenker, Notenbanker, Journalisten und Vertreter des Privatsektors zur Frühjahrstagung in Washington versammelten.
Die schlechte Nachricht: Im historischen Kontext bleibt die globale Wirtschaftsdynamik relativ kraftlos, der Inflationsdruck hartnäckig und der Zinssenkungsspielraum begrenzt. Weniger als drei Zinsschritte bis Ende 2024 preisen die Terminmärkte derzeit für die Europäische Zentralbank (EZB) ein. Zwischen einem und zwei werden für die US-Notenbank Fed veranschlagt (Datenquelle: LSEG, 24.05.2024).
Dem avisierten Startzeitpunkt der EZB-Zinswende am 6. Juni konnte die letzte Woche leicht aufgehellte Stimmung der Euroraum-Einkaufsmanager im Mai (+0,6 Punkte auf 52,2) und unerwartete Wiederbeschleunigung der nominalen Tariflöhne im ersten Quartal (von 4,5 % auf 4,7 % gegenüber dem Vorjahr) zumindest wenig anhaben (Datenquelle: LSEG, 24.05.2024).
Die gute Nachricht, die Weltkonjunktur fasst Tritt, die Teuerung lässt nach, die Zinswende naht selbst in den USA, wo die Fed die Zinswende später als die EZB einläuten wird. Goldlöckchen-ähnliche Zustände also.
Langfristanlage: Dornröschenschlaf ade
Insgesamt bleibt die Grosswetterlage unbeständig – geprägt durch strukturelle Umbrüche. Dazu gehören die geoökonomische Blockbildung, schrumpfende Erwerbsbevölkerung, der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft und die digitale Disruption.
Und was bedeutet diese Grosswetterlage für einen strategischen, mehrjährigen Kapitalanlagehorizont?
Erstens sollten Anleger häufiger einen Blick ins Depot werfen als vor der Pandemie. Damals hatten vergleichsweise wenig schwankungsreiche Wirtschaftsdaten einen langjährigen Bullenmarkt bei Aktien und Anleihen begünstigt (Ära der „Grossen Moderation“). Der „Dornröschenschlaf“-Ansatz der traditionellen Portfoliokonstruktion („anlegen und vergessen“) passt nicht in eine volatilere Welt. Eine dynamischere Handhabung ist das Gebot der Stunde.
In Bezug auf das Anlageuniversum können zweitens breite, blockartige Allokationen in Aktien- und Rentenmarktindizes die Wertentwicklung und Resilienz von Portfolios einschränken. Je nach Risikoprofil sollten Anleger erwägen, granulare strategische Positionen – etwa über Regionen hinweg, aber auch unter Hinzunahme von nicht börsennotierten Privatmarktanlagen – als Bausteine hinzuzuziehen, um ihre Portfolios widerstandsfähiger zu gestalten.
Erstmals seit vier bzw. fünf Jahren gewichtet das BlackRock Investment Institute nun Schwellenländeraktien und Industriestaatsanleihen strategisch über. Der Unterschied der Risikoprämien zwischen Schwellenländer- und Industrieländeraktien liegt auf dem höchsten Niveau seit fast vier Jahren. Diese Prämie ist ein Mass für die Überrendite, die Anleger für das Risiko erhalten, Aktien gegenüber Bargeld zu halten. Dabei lohnt sich ein wählerischer Ansatz innerhalb des Segments. Schwellenländer wie Mexiko, Indien und Saudi-Arabien profitieren von den genannten Umbrüchen, da sie etwa zunehmend als Handelspartner zwischen den Blöcken fungieren.
Bei Staatsanleihen haben strukturell höhere Zinsen zu einer Renaissance von „Income“ – der Einkommensseite im Portfolio – geführt. Neben Chancen bei kurzlaufenden Industrieländeranleihen haben inzwischen auch selektiv Langläufer wie britische Gilts an Attraktivität gewonnen. Eine hartnäckige Inflation untermauert unsere strategische Präferenz für inflationsgeschützte Anleihen.
Inflation: Weitere Entspannungszeichen, doch Notenbanken ohne Siebenmeilenstiefel
Das Thema Inflation ist in der nächsten Woche ein wichtiger Taktgeber für die Kapitalmärkte. In den USA steht der Preisdeflator für den privaten Konsum („PCE“) für April (Freitag) im Mittelpunkt – das bevorzugte Inflationsmass der Fed. Verdichten sich die Anzeichen dafür, dass die Inflation im Dienstleistungssektor nachlässt? Die Verbraucherpreisdaten hatten zudem jüngst einen weiteren Rückgang der Kerngüterpreise gezeigt, sodass die jüngsten Aufwärtsüberraschungen bei der PCE-Kennzahl möglicherweise Ausreisser gewesen sind. Dennoch erweist sich die Inflation im Dienstleistungssektor als volatil und bleibt deutlich über einem Tempo, das mit der 2%-Zielmarke der Fed im Einklang steht.
Im Euroraum könnte die Gesamtinflation (Freitag, Zahlen auf Länderebene ab Mittwoch) aufgrund von Energiebasiseffekten im Jahresvergleich leicht anziehen, was weitgehend dem Konsens entspricht. Eine kaum veränderte Kerninflation läge leicht unter dem Konsens von 2,7% (Datenquelle: LSEG, 24.05.2024). Bei der EZB-Verbraucherumfrage (Dienstag) sind die langfristigen Inflationserwartungen interessant. Hinweise auf die Stärke der geldpolitischen Transmission der EZB geben die Kreditströme an Unternehmen und Haushalte (Mittwoch).
Es bleibt bei unserer Einschätzung einer Zinswende „light“. Die Siebenmeilenstiefel bleiben für die bevorstehenden Zinssenkungen im Regal – anders als im Jahr 2022, als Fed und EZB im Kampf gegen Inflationsrisiken kräftige Zinserhöhungen von bis zu 75 Basispunkten pro Sitzung vorgenommen hatten.
[1] VIX-Index: Stellt Markterwartungen für die Volatilität über die kommenden 30 Tage dar
[2] S&P 500 – Aktienindex mit 500 der grössten US-Unternehmen.