BlackRock Marktausblick: Sozialer Sprengstoff Inflation
Von Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock.
Als US-Finanzministerin Janet Yellen am vergangenen Dienstag in ihrer Stellungnahme vor dem Finanzausschuss des Senats ihrer Zuversicht Ausdruck verlieh, man werde die Inflation einfangen können, ohne die Wirtschaft in eine Rezession zu zwingen, wurde dies vielerorts als Beruhigungspille interpretiert – möglicherweise unrealistisch aber irgendwie wohltuend.
Am Freitag wurden die Marktteilnehmer dann allerdings aus ihrer hoffnungsfrohen Stimmung gerissen. Hatten viele nach dem leichten Rückgang der PCE-Kernrate (Personal Consumption Expenditure; private Konsumausgaben) im Mai noch gehofft, die Inflation könne ihren Gipfel bereits überschritten haben, wurden sie von der US-Konsumentenpreisrate eines Besseren belehrt. Um sage und schreibe 1% legte die US-Inflation gegenüber dem Vormonat zu, was im Vergleich zum Mai 2021 einem Anstieg von 8,6% entspricht. Statt vom Aprilwert (8,3%) den Abstieg anzutreten, kletterte die Jahresinflationsrate sogar weiter. Besonders bemerkenswert dabei: Auch die Kerninflationsrate, aus der die bekannten Preistreiber Energie und Nahrungsmittel herausgerechnet wird, beschleunigte sich weiter, von der bisherigen sequentiellen Wachstumsrate von 0,5% pro Monat auf 0,6%, so dass eine weitere Ausbreitung im Warenkorb immer unbestreitbarer wird. Die Reaktion an den Märkten war eindeutig. Die Rendite der zweijährigen US-Staatsanleihen, in denen sich am deutlichsten die eher kurzfristigen Zinserwartungen abbilden, schossen allein am Freitag um 25 Basispunkte nach oben, ein Plus von 40 Basispunkten in der gesamten Woche. Auch ihre zehnjährigen Pendants beendeten die Woche mit einem Renditesprung von 20 Basispunkten bei inzwischen 3,16%. Der breite Aktienindex S&P 500, der relativ hoffnungsfroh in die Woche gestartet war, beendete den Handel am Freitagabend mit einem Wochenverlust von über 5%. Der Schock sass tief.
Zum unerfreulichen Verlauf der zweiten Wochenhälfte beigetragen hatte auch die EZB. Am Donnerstag liess die Notenbank des Euroraums verlauten, sie werde ihre drei Leitzinssätze im Juli um einen Viertelprozentpunkt anheben. Das war gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Denn abgesehen davon, dass anders als erwartet nicht nur vom Einlagesatz die Rede war, fragte sich der geneigte Beobachter, warum die EZB den Schritt nur ankündigte. Wenn sie ihn für richtig und notwendig hält, warum dann nicht gleich jetzt, sondern bis Juli warten? Die Antwort lieferte Christine Lagarde in der Pressekonferenz. Man wolle, so die EZB-Chefin, weiter konsistent mit der eigenen Forward Guidance, also dem geldpolitischen Fahrplan, bleiben. Und in dem habe man nun mal angekündigt, vor der ersten Zinsanhebung das Anleihekaufprogramm zum Ende zu bringen. Dieses werde nun zum 1. Juli eingestellt, so dass am 21. Juli dann die erste Zinsanhebung folgen könne. Doch damit nicht genug. Die EZB stellte darüber hinaus für September auch gleich den nächsten Zinsschritt ins Fenster, der durchaus grösser als 25 Basispunkte werden könne. Sollten sich nämlich die mittelfristigen Inflationsaussichten bis September nicht bessern oder sogar noch verschlechtern, könne, so die EZB, ein grösserer Zinsschritt angemessen sein.
Lagardes Hintertürchen im Kleingedruckten
Die EZB wäre nicht die EZB, hätte sie sich angesichts derart kerniger Ansprache nicht ein Hintertürchen offen gehalten. Es liegt in der eher beiläufig klargestellten „Optionalität und Datenabhängigkeit“, unter der die Ankündigungen gemacht wurde. Sprich: Sollte sich die Wirtschaft wesentlich stärker verlangsamen als in den neuen Schätzungen der Zentralbankvolkswirte abgebildet (nämlich von bisher prognostizierten 3,7% für die Eurozone in diesem Jahr auf 2,8%), die Inflation nachlassen oder die Finanzierungsbedingungen sich deutlich verschlechtern, könne der Normalisierungspfad angepasst werden. Vor allem auf letzteres, nämlich sich kräftig und sehr ungleichmässig in der Eurozone verschärfende Finanzierungsbedingungen, deuteten schon unmittelbar nach den EZB-Ankündigungen die Risikoaufschläge in Europa hin. Der zehnjährige Italien-Spread legte über die Woche um 11 Basispunkte zu, der für Frankreich gar 29 und für Spanien 34 Basispunkte. Immer klarer tritt damit das Dilemma der Zentralbanken zutage. Denn einerseits hat Inflation negative soziale Folgen und setzt die Regierungen liberaler Demokratien unter Druck. Zentralbanken, deren unabhängiges Arbeiten vom Fortbestand ebendieser liberalen Ordnungen abhängt, können deswegen nicht unbeteiligt an der Seite stehen, selbst wenn sie gegen kriegs- und pandemiebedingte Preisschocks wenig ausrichten können. Auch in den kommenden Monaten wird Fed, EZB & Co. daher kaum etwas anderes übrig bleiben, als mit kerniger Rhetorik und einem „Frontloading“ von Zinsschritten die Inflationserwartungen in Schach zu halten, bevor man sich – vermutlich spätestens Richtung letztes Quartal 2022 – doch entschliessen wird, auf mittlere Sicht mit höherer Inflation zu leben. Die Alternative nämlich, ein Abwürgen des Post-Covid-Neustarts mit der Folge von Firmenpleiten und Jobverlusten, hätte nämlich noch verheerendere soziale und politische Kosten. Das schadenfrohe Lachen der Kriegstreiber und Diktatoren dieser Welt würde man dann nur umso lauter hören. (BlackRock/mc/ps)