Von Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie BlackRock
Das Stagflationsgespenst hat uns das Jahr 2022 gründlich vermasselt. Schwaches Wachstum liess Unternehmensgewinne stagnieren und sorgte für fallende Aktienkurse. Eine von Angebotsknappheiten getriebene Inflation resultierte in steigenden Zinsen, was Anleiheinvestoren historische Verluste beibrachte. In der Kombination ergab sich damit für die meisten gemischten Portfolios, die nun mal zu grossen Teilen aus Aktien und Anleihen bestehen, eine grauenhafte Jahresperformance. Wenigstens, so verhiess es zum Jahresende mit Blick auf 2023, würde sich diese unselige Konstellation nur noch in den ersten Monaten des neuen Jahres in Form von schwachen Assetpreisen niederschlagen. Schon bald, so die Aussicht, wären Rezession und Zinsgipfel eingepreist, und der Blick auf ein wieder erfreulicheres Anlageumfeld würde sich öffnen.
Bisher bestand in dieser Situation ihre Reaktion darin, auf die Bremse zu treten. Der derzeitige Zinsanstieg war der schnellste und stärkste seit 1980. Aktuell sehen wir bereits die Verlangsamung auf dem Immobilienmarkt, aber die Verbraucher geben immer noch Geld aus. Sie haben während der Coronavirus-Krise riesige Geldsummen angespart und geben sie weiterhin aus. Gleichzeitig verursacht eine derart starke monetäre Bremsung fast notwendigerweise Belastungen im Finanzsystem. Der Zusammenbruch der SVB ist eine fast direkte Folge der Massnahmen der Zentralbanken, vor allem der stark gestiegenen Zinsen. Das konkrete Problem dort wurde zwar durch das Bank Term Funding Programme (BTFP) gelöst, aber der mit der Krise verbundene Vertrauensverlust dürfte sich negativ auf die Kreditversorgung der Industrie auswirken. Das Vertrauensproblem ist auch in Europa angesichts der Turbulenzen um verschiedene Grossbanken zu spüren.
Wie wir nach Ablauf eines turbulenten Q1 2023 inzwischen wissen, kam es anders. Die überraschende Erleichterungsrally – bis dato hatte es kein Zeichen von Rezession gegeben, dafür eher die Aussicht auf nachlassende Zinsanhebungen der Zentralbanken – wich schon Anfang Februar einer skeptischeren Einschätzung. Vor allem die Inflation erwies sich als hartnäckig, und dass die Notenbanken bald mit ihren Zinsschritten aufhören würden, erschien nun weniger wahrscheinlich. Nach einer Ansprache von Fed-Chairman Jerome Powell im US-Kongress Anfang März schossen die Zinserwartungen bezüglich der Fed auf neue Höchststände, der Abstand zwischen zwei- und zehnjährigen US-Renditen erreichte spektakuläre 110 Basispunkte. Wenige Tage später kamen dann, ausgehend von Kalifornien und überschwappend auf die Schweiz, die Turbulenzen im Bankensektor dazu. Spätestens jetzt wurde auch eingefleischten Rezessionsskeptikern klar, dass die brutalste Zinsanhebung seit 1980 in den USA nicht ohne Folgen bleiben würde. Nur dass diese Folgen sich nicht über die traditionellen Wirkungskanäle der Geldpolitik ihren Weg in die Realwirtschaft suchten, sondern mit den schwersten Turbulenzen im Finanzsystem seit 2008 an einer eher unerwarteten Stelle auftraten, nämlich im Bankensektor.
Was sagt uns das? Im Grunde wird durch den bisherigen Jahresverlauf überdeutlich, dass es die gleichen Unsicherheiten wie 2022 sind, die uns nach wie vor umtreiben. Nur eben in etwas anderer Form. So ist der Schreck angesichts zweistelliger Inflationsraten inzwischen der Schwierigkeit gewichen, das Inflationsbild dieses Jahres (und darüber hinaus) richtig zu lesen. Denn schon bald könnten steil fallende Gesamtinflationsraten höheren und langsamer sinkenden Kernraten gegenüberstehen. Und beim Wachstum setzt sich wieder die Erkenntnis durch, dass eine Fed Funds Target Rate, die rund 2,5% im restriktiven Bereich steht, höchstwahrscheinlich doch zu einer Rezession führen wird, nur eben später und auf andere Art als erwartet. Die Schlussfolgerung aber bleibt: Es sind die Unsicherheiten um Inflation und Wachstum, welche Marktteilnehmer auch in diesem Jahr intensiv beschäftigen. Das Stagflationsgespenst ist munter wie eh und je.
Geopolitik wirkt direkt auf Wachstum und Inflation
Wenn es dafür einer Erinnerung bedurft hätte, dann haben wir in der neuen Post-Covid-Realität gelernt, dass geopolitische Veränderungen direkten Einfluss auf Makrovariablen wie Wachstum und Inflation haben. So hat die russische Invasion in der Ukraine via steigende Energiepreise den Post-Covid-Inflationsschock intensiviert und damit zu stärker steigenden Zinsen beigetragen. Ähnlich direkt war der Einfluss, den die Post-Covid-Neuöffnung der grossen ostasiatischen Volkswirtschaften auf die Wachstumsaussichten unserer Region hatte. In der mittleren Zukunft dürften es Fragen etwa des Einflusses geopolitischer Spannungen auf den Welthandel und die Lieferketten sein, die sowohl Wachstums- und Inflationsperspektiven beeinflussen. Dazu vermutlich die dringend notwendigen Investitionen in eine veränderte Sicherheitsarchitektur angesichts einer als bedrohlicher wahrgenommenen Welt, in Verbindung mit dem globalen Streben nach Klimaneutralität, welches ebenfalls enorme Investitionen erfordern wird. Über das Wirken auf Staatsausgaben ergibt sich hier ein schnell identifizierbarer Wirkungskanal Richtung Zinsen und Inflation einerseits, Wachstum und Gewinnpotenzialen andererseits. Klar wird: Das Stagflationsgespenst fühlt sich in einer unsicheren, von Angebotsknappheiten geprägten Welt pudelwohl. Für uns als Kapitalmarktteilnehmer bedeutet dies die Aussicht auf weiter spannende, aber anstrengende Zeiten. (BlackRock/mc/ps)