Von Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
In dieser Woche stehen die Zentralbanken wieder mal im Mittelpunkt des Marktgeschehens. Den Anfang macht am Mittwoch die amerikanische Federal Reserve, am Donnerstag folgt die EZB und am Freitag die japanische Notenbank. Bezüglich der US-Geldpolitik preisen die Fed Funds Futures ungefähr zu drei Vierteln eine Zinspause der Fed ein. Zuletzt hatte die Notenbank am 3. Mai die Fed Funds Target Rate um weitere 25 Basispunkte angehoben, als vorerst letzten Schritt in einer ununterbrochenen Reihe von Zinserhöhungen seit dem 16. März 2022. Der gesamte Umfang von 500 Basispunkten markiert inzwischen den steilsten Zinsanstieg in Amerika seit 1980. Und am 3. Mai hatte Fed-Chairman Jerome Powell mehr als nur angedeutet, dass mit dem nun vollzogenen Schritt auf eine Bandbreite des Leitzinses von 5,0-5,25% die Notenbank fürs Erste ihre Schuldigkeit getan habe. Den Rest, so Powell, werde jetzt vermutlich eine Verschärfung der Finanzierungsbedingungen erledigen. Ausserdem würde, so die Vermutung vieler, die Inflation wohl weiter sinken und damit die Notwendigkeit weiterer Zinsanhebungen weniger dringlich erscheinen lassen.
Wie wir aber wissen, ist es bezüglich beider Annahmen anders gekommen. Die Finanzierungsbedingungen haben sich zwar nominell infolge leicht gestiegener kurzfristiger Zinsen und einer geringfügigen Abschmelzung der Fed-Bilanzsumme verschärft. Entscheidender aber dürfte gewesen sein, dass Kursanstiege an den Märkten für Aktien und Unternehmensobligationen die Marktfinanzierung der US-Unternehmen, welche anders als in Europa den Grossteil der Fremdfinanzierung ausmacht, eher erleichtert hat. Gleichzeitig zeigt sich vor allem die Kerninflation weiter sehr zäh. Kein Grund also für die Fed, sich schon jetzt beruhigt zurückzulehnen. Die Märkte haben diese veränderte Wahrnehmung durchaus zur Kenntnis genommen. In den letzten Wochen wurden nicht nur Erwartungen baldiger Zinssenkungen ausgepreist, sondern auch ein weiterer Zinsschritt nach oben wird für zunehmend wahrscheinlich gehalten. Nur eben nicht für diese Woche. Es verfestigt sich also das Bild einer Fed, die eine ‚hawkish pause‘ einlegt, also eine Unterbrechung auf dem weiteren Weg nach oben. Die Inflationsdaten am heutigen Dienstag, bei denen mit einem kräftigen Rückgang der Gesamtrate (von 4,9% auf 4,2%), jedoch mit weiter sehr robuster Kerninflation (etwa unverändert bei 5,5%) zu rechnen ist, dürften an dieser Marschrichtung wenig ändern.
Anders dürfte einen Tag später die EZB vorgehen. Da sie später mit den Zinsanhebungen begonnen hat als ihr amerikanisches Pendant und der Einlagezins mit zurzeit 3,25% erst moderat im restriktiven Bereich steht (wir verorten den neutralen Zins bei nominal etwa 2%), dürfte die europäische Notenbank die Leitzinsen weiter anheben. Wir rechnen mit jeweils 25 Basispunkte für die drei wichtigsten Zinssätze. Wie auch in Amerika werden in dieser Woche die Zentralbankvolkswirte neue Schätzungen bezüglich der makroökonomischen Situation vorlegen. Die EZB wird sich also an einem aktualisierten Ausblick darauf orientieren können, ob und wie die Wirtschaft der Eurozone das aktuelle Umfeld schwachen Wachstums (bzw. der ‚technischen Rezession‘) wieder wird verlassen können und wie sich der mittelfristige Ausblick auf Inflation und Beschäftigung gestaltet. Je nach Einschätzung dieser Parameter dürfte dann mit mindestens einem weiteren Zinsschritt am 27. Juli zu rechnen sein. Entscheidender als die Frage aber, ob nun noch ein weiterer Zinsschritt folgt oder nicht, ist die Suche der Notenbanken nach der neuen Normalität. Denn Fed, EZB und BoJ haben im vergangenen Jahrzehnt mit immer aggressiveren Mitteln erst gegen zu niedrige Inflation, dann gegen die ökonomische Nahtoderfahrung der Covid-Pandemie gekämpft.
Nun wird es Zeit, zur Normalität zurückzukehren. Das Dumme ist nur, dass sich die Welt in diesen zehn Jahren verändert hat, aber kein Mensch weiss, wie. Nicht einmal Zentralbanker, die sonst immer alles wissen, können das sagen. Und weil diese Veränderungen im Maschinenraum der Volkswirtschaften stattfinden, vor allem dort, wo die Übertragungsmechanismen der Geldpolitik in die sogenannte Realwirtschaft vermutet werden, wirken die mächtigen Entscheider der grossen Notenbanken in dieser Situation eher wie Zauberlehrlinge.
Die eigentliche Normalisierung hat noch gar nicht angefangen
Eine wichtige Rolle spielen dabei die Zentralbankbilanzen. Diese sind bekanntermassen in den vergangenen 15 Jahren enorm gewachsen. Die Fed baute ihre Aktiva nach dem Einstieg in die quantitative Lockerung ab März 2009 bis Anfang 2022 um rund das Dreieinhalbfache auf knapp neun Billionen Dollar aus. Erst seit April 2022 sinkt die Bilanzsumme. Die EZB vervierfachte diese sogar in einem noch kürzeren Zeitraum, nämlich seit Mitte 2014 auf über 8,8 Billionen Euro bis Mai 2002, wobei diese Expansion gemessen am BIP noch weit massiver ausfällt als in den USA.
Wie die Zentralbanken aus dieser Geldflutung wieder herauskommen, ohne schwerwiegende gesamtwirtschaftliche Schäden anzurichten, dürfte das eigentliche Rätsel zu sein. Ziehen sie sich etwa aus Käufen von Staatsoblgiationen komplett zurück, könnten die Obligationenzinsen wesentlich stärker steigen als bisher beobachtet. Dies gilt umso mehr, als die multiplen Herausforderungen, denen sich die Finanzministerien der Industrieländer angesichts von Klimakatastrophe, Krieg, Migration und alternden Bevölkerungen gegenüber sehen, eher zu- als abnehmen dürften. Die eigentlich entscheidende Frage für die Notenbanken wird also nicht sein, ob sie in dieser Woche die Zinsen erhöhen. Sondern jene, ob angesichts der Krisen unserer Zeit eine Rückkehr zu dem, was wir als Normalität in Erinnerung haben, überhaupt noch realistisch ist. (BlackRock/mc/ps)