Von Martin Lück, BlackRock Leiter Kapitalmarktstrategie
EZB-Präsidentin Christine Lagarde ist um ihren Job nicht zu beneiden. Nicht nur, weil die Französin sich in den Pressekonferenzen mit Ökonomensprech oder technischen Details sichtbar schwertut und damit einen unübersehbaren Kontrast zu ihrem Vorgänger, dem MIT-Elitevolkswirt Mario Draghi, darstellt. Sondern auch, weil die Lage nun mal kompliziert ist.
So hat die EZB nach langem Zögern im Juli letzten Jahres den Sprung auf den Zinszug gerade noch geschafft, befand sich aber zu diesem Zeitpunkt bereits so markant hinter der Kurve, dass in der Folge hektisch, ja überstürzt wirkende Schritte notwendig waren, um die Gunst der hohen Inflationsraten noch zur Demonstration beherzten Handelns nutzen zu können. Denn seit die Inflationsraten wieder sinken, wird es mit kernigen Schritten wie den beiden 0,75 Prozentpunkte-Schritten von September und Oktober schwierig, der gefühlte – und gerade in Deutschland medial aufgeblasene – Handlungsdruck schwindet. Sozusagen mit hängender Zunge der Inflation hinterherhechelnd erreichte die EZB Mitte Dezember gerade eben neutrales Territorium, also jenes Zinsniveau, bei dem die Geldpolitik die wirtschaftliche Entwicklung weder anschiebt noch bremst. Im Euroraum wird dieser neutrale Zins in der Grössenordnung von rund 2% vermutet.
Und so wurde es am vergangenen Donnerstag mit verständnisvollem Schmunzeln quittiert, als Lagarde sich und ihre Kollegen über den grünen Klee für den inzwischen erreichten Erfolg bei der Inflationsbekämpfung lobte, wussten doch alle Zuhörer, dass der bisherige Rückgang der Inflation keineswegs der Geldpolitik (die ja noch gar nicht restriktiv ist), sondern vor allem gesunkenen Energiepreisen zu verdanken ist. Dennoch kann verständlicherweise die Notenbank nun nicht nachlassen. Und so war es nur konsequent, dass die EZB einen 50 Basispunkte-Schritt nachlegte und einen weiteren für März quasi ankündigte.
Weiter in die Zukunft wollte sich Frau Lagarde nicht festlegen, und das ist auch vernünftig. Denn bis zum März könnte sich entweder die ökonomische Lage im Euroraum verändern, etwa wenn sich die lange erwartete, bisher aber nicht eingetretene Rezession doch noch Bahn bricht oder die Inflationsentwicklung einen ungewöhnlichen und von den Erwartungen abweichenden Verlauf nimmt. Gerade letztere Unwägbarkeit, die neben dem Dauerthema Rezession auch die Risikobereitschaft der Märkte über einen guten Teil des Jahres prägen dürfte, hat das Potenzial, zu einer ernsten kommunikativen Herausforderung für die Notenbanken zu werden.
Das kommt so: Zunächst dürften die Headline-Inflationsraten, bedingt durch starke Basiseffekte bei den Energiepreisen, über die nächsten Monate stark fallen. Möglicherweise erreichen sie im Frühsommer Niveaus, die unterhalb der langsamer sinkenden Kerninflation liegen. Das wäre ein ungewöhnliches Bild und könnte einen ersten Vorgeschmack darauf liefern, dass hinter der Kulisse des spektakulären, von Basiseffekten ausgelösten Rückgangs der Inflationsraten längst strukturelle Veränderungen ihr Unwesen treiben, deren Auftauchen wir, zumindest in messbarer Dringlichkeit, erst in der mittleren Zukunft erwartet hatten. Hier ist von den oft zitierten Ds die Rede, also Phänomenen wie Demographie, Dekarbonisierung und Deglobalisierung. Sie alle wirken inflationär und dürften dafür sorgen, dass die Inflationsraten in den nächsten Jahren höher als erwünscht bleiben werden. Oder, anders ausgedrückt, dass es eines massiveren Einbremsens der Zentralbanken bedürfte, um diese Art von Inflation aus dem System zu zwingen. Denn weil es sich überwiegend um von Angebotsknappheiten getriebene Inflation handelt, kann die Geldpolitik nur ein Nachfrageniveau, das dazu nicht passt und deswegen Inflation generiert, auf dieses knappe Angebot herunterzwingen.
Genau diese Lektion haben wir im schmerzhaften Jahr 2022 gelernt. Und dass die Notenbanken dauerhaft diesem Druck ausgesetzt sein wollen, halten wir für zweifelhaft und erwarten daher, dass sie es vorziehen werden, mit dieser Realität höherer Inflation zu leben. Das dürfte angesichts ihres Mandats manchmal schwer zu erklären sein. Wie es also aussieht, gehen die kommunikativ herausfordernden Zeiten für die Zentralbanken gerade erst los. Die sehr entspannte Marktreaktion auf Lagardes Versuch, grimmig entschlossen daherzukommen, zeigt dies überdeutlich.
Genug «Risk-on» für Schwellenländer?
Eine grundpositive Marktstimmung, ergänzt um die Einschätzung, dass etablierte Industrielandmärkte heiss zu laufen beginnen, ist oft der Auslöser für verstärktes Interesse an Schwellenlandanlagen. Im aktuellen Fall liegt der notwendige Optimismus zweifelsohne vor. Rezessionsrisiken und Inflationsgefahr werden, ob richtig oder falsch, in den ersten Wochen dieses Jahres deutlich weniger angstvoll wahrgenommen als noch vor Weihnachten. Globale Aktien haben deshalb seit Jahresbeginn um gut 8% zugelegt, globale Anleihen um über 2,5%. Gleichzeitig scheint die kräftige Dollar-Aufwertung, welche sich im Zuge des grossen Abstandes zwischen amerikanischen und europäischen Leitzinsen ergeben hatte, sich inzwischen ins Gegenteil verkehrt zu haben.
Und verglichen mit dem ‚Taper Tantrum‘ 2013, dem schockierenden Einbruch von Schwellenlandanlagen im Zeichen steigender US-Zinsen und eines starken Dollar, stehen heute viele Emerging Markets fundamental besser da, mit geringerer Auslandsverschuldung, ausgeglicheneren Leistungsbilanzen und Notenbanken, die ihren Industrieland-Pendants sogar vorausgeeilt waren. Gleichzeitig wäre es verfehlt, allzu undifferenziert Optimismus bezüglich der Schwellenländer zu verbreiten. Denn wenn die Krisen der letzten Jahre, ob Covid oder Krieg, Handelskonflikte oder geopolitische Spannungen, eines gezeigt haben, dann doch dass Schwellenländer nicht gleich Schwellenländer sind, mithin also sorgfältig zu differenzieren ist. Ausserdem dürfte die Risikoprämie, welche Anleger in Schwellenländern angesichts der Risiken und Unsicherheiten fordern sollten, eher zugenommen haben. ‚Positiv, aber selektiv‘ lautet deshalb eher das Motto. Und lieber eine Handbreit Wasser unterm Kiel.