Von Ann-Katrin Petersen, Leiterin Kapitalmarktstrategie Deutschland, Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Grossbritannien und Frankreich haben gewählt. Die britischen Finanzmärkte bewegten sich nach dem überwältigenden Wahlsieg der Labour Party nur begrenzt. Französische Aktien, die in der Vorwoche gelitten hatten, legten vor der Schlussrunde der Parlamentswahlen mit ca. 3% hingegen stärker zu als der breite europäische Markt. US-Aktien erreichten neue Rekordwerte bei einem Zugewinn um fast 2%. Schwächere Makrodaten wurden offenbar als Anzeichen interpretiert, dass die US-Notenbank Fed sich dem ersten Zinsschritt nähert. Die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen sank nach dem Juni-Arbeitsmarktbericht auf 4,27%, und ist damit am unteren Ende der vormonatlichen Bandbreite von etwa 4,2-4,5% einzuordnen. Neue Höchststände gab es auch in Japan, wo der Nikkei sogar über 41.000 Punkte kletterte, was allerdings für internationale Investoren durch die Währungsschwäche getrübt wurde (Quelle: LSEG, 05.07.2024).
Frankreich: Pattsituation im Parlament
Bei den französischen Parlamentswahlen konnte wie erwartet keiner der drei Blöcke die absolute Mehrheit erringen. Allerdings gab es eine überraschende Wendung: Das linksgerichtete Bündnis erzielte die meisten Sitze und übertraf damit Präsident Emmanuel Macrons zentristisches Bündnis und Marine LePens Rassemblement National, der auf dem dritten Platz landete. Das Ergebnis stellt damit die Norm der parlamentarischen Mehrheiten in Frankreich auf den Kopf.
Eine Reihe von Szenarien sind nun denkbar, darunter eine von links geführte zentristische Minderheitsregierung ohne Beteiligung der extremen Linken oder Rechten oder eine von Macron ernannte technokratische Regierung, sollte eine Koalitionsbildung scheitern. Das Linksbündnis befindet sich in der Pole-Position, um eine Regierung zu bilden, wozu allerdings Verhandlungen mit dem zentristischen Block erforderlich sind.
Die Regierungsverhandlungen dürften Tage oder sogar Wochen in Anspruch nehmen. Sollte eine linksgerichtete Koalition Steuer- und Ausgabenänderungen beschliessen, die das Haushaltsdefizit belasten, rechnen wir mit Gegenwind für französische Staatsanleihen. Frankreich wurde bereits wegen Verstosses gegen die EU-Fiskalregeln verwarnt und seine Kreditwürdigkeit Ende Mai herabgestuft. Eine technokratische Regierung wiederum würde nur wesentliche Gesetze wie den Haushalt verabschieden, ohne spürbare politische Änderungen vorzunehmen. Wir würden ein solches Szenario als neutral für französische Vermögenswerte betrachten, wobei die Renditen von Staatsanleihen angesichts des stagnierenden Haushaltsdefizits wahrscheinlich erhöht bleiben werden.
Die erste Reaktion der Märkte auf das Wahlergebnis zeigt sich relativ verhalten. Die Spanne zwischen den Renditen französischer und deutscher 10-jähriger Staatsanleihen blieb stabil (Quelle: LSEG, 08.07.2024). Als Macron vor einem Monat Neuwahlen ausrief, hatte der Renditeunterschied zwischenzeitlich Niveaus erreicht, die zuletzt während der Euroraum-Schuldenkrise beobachtet worden waren, sich zuletzt jedoch insgesamt verringert.
Wir bleiben bei Staatsanleihen des Euroraums mit Blick auf einen taktischen Horizont von sechs bis zwölf Monaten sowie langfristig neutral positioniert und bevorzugen britische Staatsanleihen angesichts der grösseren politischen Stabilität, die vom Ausgang der britischen Wahlen erwartet wird.
Die Auswirkungen auf französische Aktien sind weniger eindeutig. Obwohl nur etwa 15 Prozent der Umsätze und Geschäftstätigkeiten französischer Blue Chips direkt mit der inländischen Aktivität verbunden sind (Datenquelle: Morgan Stanley, 13.06.2024.), dürften Anleger ein Auge darauf haben, wie sich das Geschäftsumfeld für inländische und multinationale Unternehmen entwickelt. Weiter behalten wir unsere regionale taktische Präferenz für US-amerikanische und japanische gegenüber europäischen Aktien bei.
Grossbritannien: Wie mutig geht Labour die Wachstumsherausforderungen an?
Anders gestaltet sich die Situation in Grossbritannien, wo der Sieg der Labour Party am vergangenen Donnerstag dem neuen Premier Keir Starmer das politische Kapital verleiht, um die strukturellen Herausforderungen des Landes anzugehen. Dazu gehören schwaches Produktivitätswachstum und Arbeitskräftemangel. Die britische Wirtschaft ist seit 2021 um kaum mehr als 1% gewachsen – ein Bruchteil des Wachstums der US-Wirtschaft (Quelle: LSEG, 05.07.2024).
Die Bewertungen britischer Aktien spiegeln unserer Ansicht nach bereits die verhaltenen Wachstumsaussichten wider und weisen eine hohe Risikoprämie gegenüber US-Aktien auf. Der FTSE 100 (1) hat – trotz seiner globalen Ausrichtung – in diesem Jahr nur um etwa 7% zugelegt, verglichen mit dem Zuwachs von 12% für den MSCI World Index. Der eher auf den Binnenmarkt ausgerichtete Midcap-Index FTSE 250 (2) verbuchte ein Plus von etwa 6% (Quelle: LSEG, 05.07.2024).
Die grosse Frage: Wie mutig wird Labour angesichts der beträchtlichen Mehrheit die Wachstumsherausforderungen angehen? Das klare Mandat – und die Möglichkeit einer Regierung mit zwei Amtszeiten, die eine Umsetzung langfristig ausgerichteter Politik ermöglicht – könnte unserer Meinung nach die Stimmung für britische Vermögenswerte aufhellen, insbesondere unter ausländischen Investoren, die über die Hälfte der Anteile an in Grossbritannien notierten Unternehmen halten.
Gleichzeitig schränken die Haushaltszwänge Labours mutigen Ansatz zur Förderung des Wachstums ein. Die Marktturbulenzen nach dem Minihaushalt vom September 2022 haben den sinkenden Spielraum der Finanzpolitik angesichts hoher Staatsverschuldung und Zinsen deutlich gemacht. Und Labour erkennt die Notwendigkeit an, die Haushaltsregeln einzuhalten – ihre Ausgabenpläne belaufen sich auf eine Steigerung um nur 0,3% des Bruttoinlandsprodukts gegenüber der vorherigen Regierung.
Wir sind taktisch neutral bei britischen Staatsanleihen positioniert. Aus strategischer Sicht bevorzugen wir jedoch langlaufende britische gegenüber US-Staatsanleihen, da wir angesichts der strukturell verhalteneren Wachstumsaussichten des Vereinigten Königreichs mit stärkeren Leitzinssenkungen als in den USA rechnen.
Mit Blick auf den europäischen Kontinent könnte der Sieg der Labour Party angesichts des Ukraine-Kriegs eine kooperativere Beziehung zur EU fördern. Mit einer engeren Partnerschaft in der Verteidigung. Gezielte Handelsabkommen könnten dabei Schlüsselsektoren wie Energie und Chemie zugutekommen.
USA: Noch keine Entwarnung bei der Inflation
Im Gegensatz zum Euroraum steht die Zinswende in den USA noch aus. Die Arbeitsmarktdaten haben unseres Erachtens die Argumente für eine Zinssenkung im September geringfügig untermauert – und weitere Diskussionen der datenabhängigen Fed über Zinserhöhungen unwahrscheinlich macht.
206.000 neue Arbeitsplätze wurden im Juni geschaffen, das ist nur knapp über den Konsenserwartungen. Zusammen mit den Abwärtskorrekturen früherer Berichte beträgt der durchschnittliche monatliche Beschäftigungszuwachs der letzten drei Monate rund 180.000, was in etwa dem monatlichen Durchschnitt vor der Pandemie entspricht (Quelle: LSEG, 05.07.2024).
Angesichts des jüngsten unerwarteten Anstiegs der Zuwanderung glauben wir, dass die US-Wirtschaft dieses Niveau halten kann, ohne Lohndruck zu riskieren. Die Zuwanderung könnte sich jedoch künftig verlangsamen und das Arbeitskräfteangebot verringern. Und obwohl sich das Lohnwachstum abschwächt, liegt es immer noch auf einem Niveau, das mit einer Inflation vereinbar ist, die über dem 2%-Ziel der Fed liegt.
In dieser Woche richtet sich das Augenmerk von Anlegern daher auf den Verbraucherpreisindex für Juni (Do) – und ob die Dienstleistungsinflation erneut nachlässt. Die Kerninflation im Dienstleistungssektor, ohne Wohnimmobilien, erweist sich als volatil. Sie war im letzten Monat ungewöhnlich niedrig, (Datenquelle: LSEG, 05.07.2024).und könnte sich wieder erholen.
1) FTSE 100: Aktien-Index an der Londoner Börse, der 100 der grössten UK-Unternehmen umfasst
2) FTSE 250: Aktien-Index an der Londoner Börse, der 250 mittelgrosse UK-Unternehmen umfasst