Von Ann-Katrin Petersen, Chief Investment Strategist bei BlackRock
Superwahljahr: Russlands alter und neuer Präsident zementiert geopolitische Fragmentierung
Die politischen Karten mischen sich im Jahr 2024 weltweit neu, wenn über 4 Milliarden Menschen in 76 Nationen an die Wahlurne schreiten. Nicht jedoch in Russland. Denn eine wirkliche politische Alternative hatte die russische Bevölkerung bei der Präsidentschaftswahl, nicht. So wird Wladimir Putin weitere sechs Jahre an der Spitze des Landes stehen. Eine laut offiziellen Angaben rekordverdächtige Unterstützung bei historisch hoher Wahlbeteiligung soll als Beweis dienen, dass Putin die politische Kontrolle beibehält.
Ungeachtet der Tatsache, dass Putins Wahlsieg den weiteren Verlauf des Angriffskriegs in der Ukraine beeinflusst – Experten rechnen mit einem jahrelangen, unerbittlichen Schwebezustand – sollten Investoren Folgewirkungen für die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Hinterkopf behalten. Denn der alte und neue Präsident gehört zu denjenigen Staatslenkern, die die geltende regelbasierte Weltordnung anfechten. Es ist kein neues Phänomen, dass die Vorteile der globalen Zusammenarbeit gerade von vielen Schwellen- und Entwicklungsländern als zu ungleich verteilt kritisiert werden. Angesichts wachsender geopolitischer Verwerfungen und erhöhter wirtschaftlicher Unsicherheit halten wir an folgender Einschätzung fest: Erstens scheint die Weltwirtschaft zunehmend entlang geopolitischer Grenzen zu zersplittern. Handelsbeziehungen werden hinterfragt und auf Abhängigkeiten abgeklopft. Im Jahr 2023 wurden rund 3.000 handelsbeschränkende Massnahmen verhängt, fast dreimal so viele wie im Jahr 2019 (Quelle: Internationaler Währungsfonds, IWF, 2024). Zweitens erleben wir eine Rückkehr von Wettbewerbsvorstellungen auch zwischen befreundeten Handelsnationen. Der „Inflation Reduction Act“, „Green Deal Industrial Plan“ und CHIPS Act, der den Ausbau der Halbleiterindustrien fördern soll, sind Beispiele für die Renaissance der Industriepolitik in den USA und der Europäischen Union.
Fazit: Zu einer ausgewachsenen Deglobalisierung wird es voraussichtlich nicht kommen, wohl aber zu einer neu verkabelten internationalen Arbeitsteilung. Laut IWF-Berechnungen dämpft eine 5%-20%ige Verlangsamung des Handels zwischen geopolitisch koordinierten Blöcken wie den USA und der EU das Wachstum und erhöht den Inflationsdruck. Für die USA könnten sich die Effekte mittelfristig auf ein Wachstumsminus von 0,2%- bis 0,7%-Punkten und einen Kostenschub von +0,4% bis 1,7%-Punkten belaufen, wenngleich bei der Projektion von Inflationseffekten mögliche ostasiatische Überkapazitäten und fallende Exportpreise als potenzieller Gegenspieler zu berücksichtigen sind.
Zentralbankwoche: Japan auf Normalisierungskurs, Leitzinsen in den USA und Grossbritannien bleiben straff
Apropos Inflation: Die Kapitalmärkte reagieren weiterhin empfindlich auf Inflationsdaten. Der stärker als erwartete Anstieg der US-amerikanischen Teuerung im Januar und Februar hat das Auspreisen von Zinssenkungserwartungen befeuert, einhergehend mit Renditeaufwärtsdruck an den Anleihemärkten. Lediglich 72 Basispunkte, d.h. weniger als drei Senkungen der US-Notenbank Fed um 25 Basispunkte, wurden per Ende der abgelaufenen Woche gepreist, verglichen mit 167 Basispunkten oder etwa sieben erwarteten Senkungen Ende 2023. US-Staatsanleihen mit 2-jähriger Laufzeit, die eng mit dem Ausblick der US-Zinspolitik verknüpft sind, erreichten vergangene Woche mit 4,7% ihr bisher höchstes Renditeniveau in diesem Jahr (Datenquelle: LSEG, 15.03.2024). Angesichts positiv überraschender Unternehmensgewinne konnte dies der Risikofreude an den Aktienmärkten bislang allerdings wenig anhaben.
In dieser Woche richtet sich das Augenmerk auf die Zinsentscheide der Bank of Japan (Di), der Fed (Mi) sowie der Bank of England (Do). Anleger erwarten die erste Fed-Zinssenkung erst zur Jahresmitte und dürften sich darauf konzentrieren abzuklopfen, wie Notenbankchef Jerome Powell auf die jüngsten, über den Erwartungen liegenden Inflationsdaten reagiert sowie ob die aktualisierten Median-Projektionen auf eine anhaltendere Inflation und/oder weniger Zinsschritte in diesem Jahr (zwei statt drei?) hindeuten. Unsere Kernthese bleibt: Der Zinssenkungsspielraum fällt begrenzt aus und mit strukturell höheren Zinsen als vor Ausbruch der Pandemie sollte gerechnet werden.
In Japan, wo die Bank of Japan (BoJ) bis dato an ihrer ultralockeren Negativzinspolitik festgehalten hatte, stehen die Zeichen derweil auf Normalisierung. Die Ergebnisse der Lohnverhandlungen vom vergangenen Freitag – sie zeigten ein jährliches Lohnwachstum um 5,3%, die grösste Steigerung seit 1991 (Datenquelle: LSEG, 15.03.2024) – haben die Zuversicht gestärkt, dass sich die Inflation nachhaltig bei etwa 2% einpendeln könnte, aber sie reichen nicht aus. Bei der heutigen Bekanntgabe des Zinsentscheids (nach Redaktionsschluss) wird die Wahl der Sprache von entscheidender Bedeutung sein: Stellt die BoJ eine etwaige Kursänderung lediglich als den Einstieg zum graduellen Ausstieg aus der unkonventionellen Geldpolitik dar oder als den Beginn einer konzertierten Straffungspolitik? Eine allmähliche geldpolitische Normalisierung, ohne den jüngsten binnenwirtschaftlichen Inflationsanstieg zu gefährden, verknüpft mit fortgesetzten Corporate Governance-Reformen japanischer Unternehmen würde sich unseres Erachtens fortgesetzt positiv auf den heimischen Aktienmarkt auswirken.
Europäische Konjunktur: Allmähliche Belebung im Euroraum, Wachstumstrend gedämpft
Im Euroraum wiederum stehen eine Reihe von Konjunkturumfragen im Fokus, darunter die Einkaufsmanagerindizes. Die Stimmung dürfte sich aufhellen, aber insgesamt auf gedämpften Niveaus verharren. Dies im Einklang mit unserer Einschätzung einer zögerlichen Belebung der Wirtschaftstätigkeit im ersten Halbjahr.
In Summe spiegeln die Börsen unverändert die Erwartung wider, dass sich das gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Umfeld günstig entwickelt, gerade in den USA und Japan. Wir rechnen mit Belastungsproben für dieses Narrativ in der Zukunft, bleiben aber taktisch an den Aktienmärkten beider Länder übergewichtet. (BlackRock/mc/ps)