Von Ann-Katrin Petersen, Senior Investment Strategist bei BlackRock
Ein vorweihnachtlicher Zinssenkungsoptimismus beflügelt derzeit die Börsen im Euroraum und den USA. Der deutsche Leitindex DAX40 markierte in der abgelaufenen Handelswoche eine neues Allzeithoch, der US-amerikanische S&P 500 kletterte auf den höchsten Stand in diesem Jahr. Die schmerzhafte Kurskorrektur der späten Sommermonate wurde inzwischen wieder wettgemacht. Der von Marktbeobachtern auf den ersten Blick als „stark“ interpretierte US-amerikanische Arbeitsmarktbericht vermochte zum Wochenabschluss die Kursrally am Rentenmarkt, und spiegelbildlich der Rückgang der Renditen, lediglich zu dämpfen.[1]
Ambitionierter Zinssenkungsoptimismus könnte enttäuscht werden
In nur wenigen Wochen, wie auf einer eisglatten Skipiste, sind die Renditen für zehnjährige deutsche Bundesanleihen von etwa 3,0% auf rund 2,2% und für ihre US-amerikanischen Pendants von 5,0% auf 4,2% kräftig nach unten abgeglitten. In unseren Breitengraden hatte die sich verbreiternde Disinflation im November, und insbesondere die mit 2,4% nur noch knapp über der 2%-Preisstabilitätsmarke der Europäischen Zentralbank (EZB) liegende Gesamtinflationsrate, die Spekulationen auf eine baldige Zinswende noch einmal befeuert. Aber auch in den USA sind die Zinserwartungen für die Notenbank Fed ins Rutschen gekommen. Mittlerweile traut, basierend auf Termingeschäften, der Markt im Jahr 2024 sowohl Madame Lagarde als auch Jerome Powell Zinssenkungen von knapp 150 Basispunkten zu. Dies entspräche etwa sechs Zinssenkungen von 25 Basispunkten. Eine Verdreifachung im Vergleich zu Ende Oktober, als im Euroraum Senkungen von lediglich 50 Basispunkten für möglich gehalten wurden.[2]
Doch wie wir bereits seit Kindertagen wissen, können bedauerlicherweise nicht alle Wünsche zum Fest erfüllt werden.
Und so richtet sich das Augenmerk gespannt auf die letzte wichtige Zentralbanksitzungswoche in diesem Jahr, in der die US-Notenbank Fed (Mittwoch), EZB und Bank of England (Donnerstag) über den künftigen Kurs ihrer Geldpolitik beraten und entscheiden. Die Messlatte, die Märkte auf der „dovishen“ Seite zu beglücken, liegt angesichts der jüngsten Marktbewegungen in den USA und insbesondere im Euroraum hoch. Vielmehr ist die grosse Frage, die im Raum steht, wohl weniger, ob, sondern wie vehement sich Fed-Chef Jerome Powell und EZB-Präsidentin Christine Lagarde gegen den Zinsoptimismus stellen werden. Unsere Einschätzung: Sie dürften bei ihrer Kommunikation darauf bedacht sein, die bereits weit gelaufenen Markterwartungen früher und schneller Zinssenkungen einzufangen. Je nach dem, ob dies gelingt, könnten die am Terminmarkt eingepreisten aggressiven Zinssenkungserwartungen infrage gestellt werden und zu Schwankungen und Kursrücksetzern an den Aktien- und Anleihemärkten führen.
Wenn Madame Lagarde am Donnerstagnachmittag bei der Pressekonferenz vor die Mikrofone tritt, wird sie vor einer Gratwanderung stehen. Wahrscheinlich wird sie wiederholen, dass „Gespräche über Zinssenkungen verfrüht sind“ und „eine ungerechtfertigte Lockerung der finanziellen Bedingungen bedeutet, dass die Geldpolitik möglicherweise länger straff bleiben muss“. Gleichzeitig dürften die EZB-Experten angesichts der zuletzt eher schwachen Konjunkturdaten die Wachstumsprognosen leicht nach unten revidieren. Spannender noch wird sein, ob auch die aktualisierten Inflationsprognosen der EZB heruntergenommen werden, insbesondere wie schnell die EZB eine Rückkehr der Inflationsrate zu ihrem 2%-Inflationsziel erwartet. Doch Obacht: Der Stichtag für die Prognosen war vermutlich der 21. November – also vor dem jüngsten starken Rückgang der Renditen (der das Inflationsprofil nach oben getrieben hätte), aber auch vor dem Inflationsrückgang im November und Rückgang der Rohstoffpreise (was das Profil nach unten gedrückt hätte), sodass die Gesamtauswirkung nicht eindeutig ist. So oder so ergibt sich aber wohl kein grünes Licht für rasche Zinssenkungen.[3]
Inflationsrückgang, aber kein akuter Handlungsdruck für geldpolitische Kehrtwende
Wir denken, es bleibt dabei: Die Gesamtinflation könnte im Jahr 2024 auf die Preisstabilitätsmarke der EZB von 2% sinken oder diese sogar vorübergehend unterschreiten. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns in einer strukturell anderen Welt mit hartnäckig hohem unterliegenden Kostendruck bewegen. Der Arbeitsmarkt bleibt fest – Stichwort demografischer Wandel und schrumpfende Erwerbsbevölkerung – und die Lohnentwicklung dürfte das Abwärtspotenzial bei der Dienstleistungsinflation begrenzen. In der vergangenen Woche erinnerte daran das im dritten Quartal kräftig ausfallende Lohnwachstum (4,5-6,0 % gegenüber dem Vorjahr, je nach Messgrösse), die erhöhten Inflationserwartungen der Verbraucher und der beschleunigte private Verbrauch im dritten Quartal angesichts entlasteter Realeinkommen der Haushalte. All dies sollte für länger anhaltende Inflation im Dienstleistungssektor sorgen. Es ist durchaus denkbar, dass die EZB die Lohnverhandlungen im Frühjahr 2024 wird abwarten wollen, um ihr Vertrauen zu festigen, dass die Inflation nachhaltig in Richtung bzw. auf 2% zurückkehren wird. Mittelfristig könnte sich – so unsere Einschätzung – die Kerninflation bei etwas über 2% einpendeln, dies läge etwa ein Prozentpunkt über dem Durchschnittswert im Zeitraum 2010–2019.[4]
In den USA dürfte die am Dienstag zur Veröffentlichung stehende Inflationsrate für November nur für ein begrenztes Aufatmen sorgen. Zwar ist von einer leicht rückläufigen fallenden Gesamtinflationsrate auszugehen (Oktober: 3,2% gegenüber Vorjahr), allerdings primär dank nachlassender Energiepreise. Der unterliegende Preisdruck bleibt auch jenseits des Atlantiks hartnäckig (Oktober: 4%). So deuten US-Arbeitsmarktdaten vom vergangenen Freitag unseres Erachtens zwar auf einen sich allmähliche abkühlenden, aber weiterhin festen Arbeitsmarkt hin. Die von 3,9% auf 3,7% gesunkene Arbeitslosigkeit trotz steigender Erwerbsbeteiligung (Arbeitslosigkeit wieder nahe des Fünf-Jahrzehnt-Tiefs vom Jahresbeginn) und das immer noch hohe Lohnwachstum (Anstieg des Stundenlohns um 0,4% gegenüber Vormonat, jährliche Veränderung immer noch bei erhöhten 3,7%) sind weiterhin nicht mit einer Rückkehr der Inflation zum 2% -Ziel der Fed vereinbar.
Daher glauben wir nicht, dass die Fed die Zinsen so schnell senken wird, wie die Märkte es erwarten, selbst wenn der Zeitpunkt für die erste Zinssenkung näher rückt.[5]
Fiskalpolitik: Transatlantische Divergenz tritt 2024 stärker zum Vorschein
Auch die Finanzpolitik rückt im Jahr 2024 wieder verstärkt ins Rampenlicht. In der Europäischen Union (EU) lassen die Haushaltsentwürfe der Länder für 2024 erwarten, dass nach mehr als drei Jahren beispielloser fiskalpolitischer Unterstützung zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und der Energiekrise die staatlichen Haushaltsdefizite der EU-Mitgliedsstaaten voraussichtlich merklich schrumpfen. Darüber hinaus wird der Stabilitäts- und Wachstumspakt im Jahr 2024 wieder greifen, nachdem er seit 2020 ausgesetzt worden war. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Budgethaushalte in Europa im Jahr 2024 in einer besseren Verfassung sein dürften als in den Vorjahren. Weniger eindeutig gestaltet sich die Situation in den USA, und das nicht nur im Hinblick auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen. Washington schlägt derzeit weiterhin einen lockeren finanzpolitischen Kurs an und wir wären nicht überrascht, läge das US-Primärdefizit in den nächsten zehn Jahren durchschnittlich bei etwa 3%, ein Prozentpunkt über dem Durchschnitt vor Ausbruch der Pandemie. Dieser fiskalpolitische Ausblick ist unseres Erachtens einer der Gründe dafür, dass Anleger mehr Entschädigung für das Risiko einfordern, das mit dem Halten langfristiger Anleihen einhergeht (Laufzeitprämie).[6]
Was bedeutet all dies für Investoren?
Die Markterwartungen früher und schneller Zinssenkungen im Euroraum und in den USA sind bereits weit gelaufen. Je nachdem, ob es der EZB und Fed in dieser Woche gelingt, diese wieder einzufangen, ist unserer Einschätzung nach mit Schwankungen und Kursrücksetzern an den Aktien- und Anleihemärkten zu rechnen. Selbst wenn der Zeitpunkt für die erste Zinssenkung näher rückt, bleibt die Attraktivität von Zinseinkommen in Portfolios in einem Umfeld anhaltend straffer Zinszügel der Notenbanken bestehen. Eine Rückkehr zum Niedrigzinsumfeld erwarten wir nicht. Die zu niedrige Laufzeitprämie mahnt fortgesetzt zu Vorsicht beim Eingehen von Durationsrisiken in der mittleren Frist. Auch bei risikoreicheren Anlageklassen bleibt Fingerspitzengefühl gefragt. Innerhalb des Aktienuniversums der Industrieländer stehen wir beispielsweise dem japanischen Aktienmarkt fortgesetzt konstruktiv gegenüber dank eines spürbar aktionärsfreundlicheren Ansatzes japanischer Unternehmen. Zum anderen bieten „Megaforces“ aus unserer Sicht spannende regionen- und sektorenübergreifende Anlagechancen.
1, 2, 3, 4, 5, 6 Quelle: Refinitiv Datastream, 2023