BlackRock Marktausblick: «Zinswende light»
Von Ann-Katrin Petersen, Chief Investment Strategist bei BlackRock
Demografischer Wandel: Auswirkungen bereits spürbar
Weltweit steigt die Lebenserwartung und die Geburtenraten sinken. In vielen Industrieländern und in China bedeutet dies, dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den nächsten 20 Jahren schrumpfen wird. Das hat enorme gesamtwirtschaftliche Auswirkungen, während in Schwellenländern wie Indien, wo die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter immer noch wächst, das wirtschaftliche Bild ganz anders aussieht (Quelle: BlackRock Investment Institute “Decoding demographic divergence”, mit Daten von United Nations, Reuters, LSEG Datastream, März 2024).
Weniger Arbeitskräfte bedeuten für sich genommen ein gedämpftes Wachstumspotenzial. Nach Angaben der OECD machte der Anstieg der Erwerbsbevölkerung in den letzten 20 Jahren in den G7-Staaten 0,3 Prozentpunkte der durchschnittlichen Wachstumsrate von 1,7% aus. Dieser Auftrieb verschwindet nun. Sollte die Arbeitsproduktivität nicht rascher zulegen, schätzen wir, dass sich das durchschnittliche Wirtschaftswachstum auf 1,2% verlangsamt. Zum Vergleich: In der Vergangenheit lagen die G7-Wachstumsraten lediglich in Zeiten von US-Rezessionen unter 1,3% (Quelle: OECD, Stand 2024).
Aus unserer Sicht wirkt der demografische Wandel zudem inflationär. Historische Daten zeigen, dass Rentner zwar nicht mehr aktiv zur erfassten Wirtschaftsleistung beitragen, aber in der Regel nicht weniger ausgeben. Darüber hinaus werden die Regierungen wahrscheinlich mehr für Gesundheitsversorgung und Renten ausgeben müssen. Der daraus resultierende Inflationsdruck ist einer der Gründe, weshalb die Leitzinsen der Zentralbanken über dem Niveau vor der Pandemie verharren dürften.
Die sog. „neutralen“ Leitzinsen, die die Wirtschaft weder bremsen noch ankurbeln, könnten unseren Schätzungen zufolge in den entwickelten Märkten im Durchschnitt etwa 0,5 Prozentpunkte höher ausfallen als vor der Pandemie. Staaten sehen sich infolgedessen nicht nur mit sinkenden Steuereinnahmen, sondern auch mit höheren Kosten für den staatlichen Schuldendienst konfrontiert.
In den USA fehlen Arbeitskräfte selbst im Lichte der gegenwärtig anhaltenden Nettomigrationsströme (die jüngst starken Arbeitsmarktdaten für den Monat März spiegelten nicht zuletzt einen unerwartet ausfallenden Anstieg der Einwanderung wider). Auf einen Arbeitslosen kommen immer noch knapp 1,4 offene Stellen (Quelle: LSEG, 05.04.2024). Das Tempo des Rückgangs des Verhältnisses von offenen Stellen zu Arbeitslosen hat sich seit Mitte 2023 verlangsamt. Es dürfte noch ein langer Weg sein, bis wieder das Verhältnis von rund 1,0 vor Ausbruch der Pandemie erreicht wird. Der jüngste Einwanderungsanstieg, wie übrigens auch in Grossbritannien und Kanada zu beobachten, müsste über Jahre anhalten, um den Bevölkerungsrückgang im erwerbsfähigen Alter vollständig auszugleichen – was aus unserer Sicht unwahrscheinlich ist. Umso relevanter bleibt es daher zu beobachten, inwieweit der Vormarsch der Künstlichen Intelligenz die Produktivität einer schrumpfenden Belegschaft steigern kann.
EZB: Signale hinsichtlich Juni-Zinssenkung verdichten sich
Dies- und jenseits des Atlantiks wurden Zinssenkungserwartungen an den Anleihemärkten im ersten Quartal deutlich ausgepreist. Inzwischen wird mit einer Zinswende „light“ von zwei bis drei Zinssenkungen bzw. insgesamt 65 Basispunkten durch die US-Notenbank Fed bis Jahresende gerechnet – 100 Basispunkte weniger als zu Jahresbeginn (Quelle: LSEG, 05.04.2024). Die Renditen von US-Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit erhöhten sich angesichts der kräftigen Beschäftigungszuwächse letzte Woche sprunghaft um knapp 20 Basispunkte und handelten nahe ihrer Jahreshochs von 4,4%. Deutsche Bundesanleihen konnten sich dieser Bewegung nicht gänzlich entziehen und kratzten an der Marke von 2,4%, d.h. noch unter dem bisherigen Jahreshoch von 2,5%. An den Aktienmärkten prägten Kursrücksetzer das Bild, wenngleich wichtige Leitindizes wie der US-amerikanische S&P 500 nahe ihrer Allzeithochs verharrten (Quelle: LSEG, 05.04.2024).
Trotz der starken US-Arbeitsmarktdaten, die wie beschrieben auch den unerwarteten Einwanderungsanstieg widerspiegeln, gehen wir davon aus, dass die Zinswende der Fed näher rückt. Allerdings dürfte es für die Fed keine Selbstverständlichkeit mehr sein, im Juni mit Zinssenkungen zu beginnen.
In dieser Woche richtet sich in den USA das Augenmerk auf die Inflationsdaten (Mittwoch) und die Frage, ob der Anstieg der Kerngüterpreise im Februar einmalig war oder ob die Zahlen für März darauf hindeuten, dass der dämpfenden der Warenpreise Effekt auf die Teuerung ausläuft. Die Dienstleistungspreise sollten angesichts des angespannten Arbeitsmarkts und Lohndrucks hartnäckig hoch ausfallen.
Im Euroraum dürfte die Europäische Zentralbank (EZB) am Donnerstag die Füsse still halten. Allerdings haben für sich genommen die eingehenden Daten, einschliesslich der jüngsten Inflationszahlen, die Argumente für eine erste Zinssenkung der EZB im Juni gestärkt, welche am Terminmarkt nunmehr vollständig eingepreist ist.
Das Tempo der darauffolgenden Lockerungsschritte – pro Sitzung oder pro Quartal – bleibt mit einem Fragezeichen behaftet. Es ist wahrscheinlich, dass Präsidentin Christine Lagarde erneut betonen wird, dass die EZB, selbst nach eingeläuteter Zinswende, einen „datenabhängigen Ansatz von Sitzung zu Sitzung“ verfolgen und sich „nicht vorab auf einen bestimmten Zinspfad festlegen“ wird.
Ihre Reaktionsfunktion dürfte die EZB weiterhin auf der Grundlage von drei Kriterien kalibrieren: den Inflationsaussichten, der Dynamik der unterliegenden Inflation und der Stärke der geldpolitischen Transmission. Am aktuellen Rand spielen weitere Anzeichen dafür, dass sich das Lohnwachstum im Euroraum verlangsamt, eine besondere Rolle. Allerdings könnten die Daten zum unterliegenden Kostendruck und den Finanzbedingungen im Laufe der Zeit an Bedeutung verlieren. EZB-Vertreter haben durchblicken lassen, dass ihr Vertrauen in das erste Element, ihre Inflationsprognose, gestiegen ist.
Kapitalmärkte: Zinswende „light“ = Zinseinkommen bleibt attraktiv
Anleger sollten das Gesamtbild im Auge behalten: 2024 wird das Jahr der Zinswende. Als erste der G10-Notenbanken* hat die Schweizerische Nationalbank bereits im März ihren Leitzins gesenkt. Die EZB und US-Notenbank Fed dürften im Sommer folgen. Jedoch ist nicht mit einer Rückkehr zu dem Zinsumfeld zu rechnen, wie Anleger es vor Ausbruch der Pandemie kannten. Im Gegensatz zu vorherigen Leitzinssenkungszyklen dürfte diesmal kein neuer Rekord in Sachen Niedrigzins erreicht werden.
Ein Jahrzehnt lang hatten Anleihen mit negativen Renditen die globalen Märkte überschwemmt. Auf ihrem Höchststand rentierten, gemessen am Bloomberg Global Aggregate Index, Zinspapiere im Wert von über 18 Billionen US-Dollar negativ – eine Folge von kräftigen Zinssenkungen und dem beherzten Wertpapiererwerb durch die Notenbanken, um den geldpolitischen Kurs umfassender zu lockern.
Negative Renditen sind nun Geschichte. Hohe Inflationsraten im Zuge von Pandemie und Energiekrise mündeten in einer entschiedenen Straffung der Geldpolitik und haben eine neue Ära am Anleihemarkt eingeläutet. Die Rendite 10-jähriger US-Staatsanleihen markierte 2023 den höchsten Stand seit 16 Jahren.
Strukturell höhere Zinsen bedeuten, dass Anleihen ein grösseres Einkommenspolster bieten. Der schwankungsreichere gesamtwirtschaftliche Nachrichtenfluss hat jedoch ihre Fähigkeit beeinträchtigt, den Ausverkauf von Risikoanlagen auszugleichen. Zudem sind die Finanzpolitik und Schuldentragfähigkeitsanalysen wieder verstärkt ins Rampenlicht gerückt. Aus diesem Grund bleiben wir wählerisch.
Über einen strategischen Horizont von fünf Jahren und länger bevorzugen wir inflationsindexierte gegenüber langfristigen Staatsanleihen der Industrieländer. Wir halten an unserer taktischen und strategischen Präferenz für kürzere Laufzeiten fest. Denn im Lichte hoher Staatsschuldenberge, eines üppigen Anleiheangebots in Teilbereichen des Marktes und gesamtwirtschaftlicher Volatilität dürften Investoren eine grössere Entschädigung für das Risiko einfordern, das mit einer längeren Kapitalbindungsdauer einhergeht. (BlackRock/mc/ps)
*Gremium innerhalb des Internationalen Währungsfonds, bestehend aus: Belgien, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Schweden, Schweiz und USA.