Wer in den letzten paar Jahrzehnten an den Kapitalmärkten unterwegs gewesen ist, durfte sich an etwas ungeheuer Tröstliches gewöhnen. Die Tatsache nämlich, dass auch nach den schlimmsten Kurseinbrüchen, im Anschluss an die schwersten Krisen, immer so etwas wie Normalität eingekehrt ist. Dass die Welt dann irgendwie wieder die alte wurde und, vielleicht mit etwas Geduld, auch die Performance sich erholte. Angelsachsen sprechen von der ‚Mean Reversion‘, also der Rückkehr zu einem wie auch immer gearteten Mittelwert. Und ja, dies hat, solange 99,9% der heute aktiven Marktteilnehmer denken können, noch immer funktioniert, selbst nach der fatalen Implosion der ‚New Economy‘ Anfang der 2000er Jahre, der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 oder der Covid-Schockstarre im März 2020. Es gab Paradigmenwechsel, aber keinen Systembruch. Auf die neue, nur geringfügig veränderte Normalität war stets Verlass.
Von Dr. Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Was viele Anleger derzeit umtreibt ist, dass es diesmal anders, die neue Normalität schwieriger zu identifizieren sein könnte. Die Welt befindet sich nämlich nicht nur in einer Krise, sondern gleich in mehreren, angefangen bei Krieg, Klima und Hunger bis zur globalen Ungleichheit, der Bedrohung des liberalen Gesellschaftsmodells und dem Kampf um Rohstoffe. Jede einzelne dieser Krisen wäre schon für sich allein genommen in der Lage, eine völlig andere Weltordnung hervorzubringen. Jede markiert für sich einen Strukturbruch, in dem Sinne, dass der Rahmen, innerhalb dessen sich das Pulsieren von Gesellschaften, Ökonomien und Märkten abspielt, erheblich verschoben wird. Und natürlich ist keine davon wirklich neu. Nur werden aktuell die Krisen, unter denen die Welt leidet, durch Katalysatoren wie Covid oder Russlands Überfall auf die Ukraine gleichsam auf der Zeitachse zusammengeschoben. Ihre nahezu zeitgleiche Kulmination dringt als ‚Zeitenwende‘ so markant ins Bewusstsein, dass sogar eher träge Politikertypen aus ihrer Lethargie gerissen werden. Und wer daraufhin umso genauer hinsieht, wird feststellen, dass wir uns in Wirklichkeit nicht in einer Zeitenwende befinden, sondern gleich in mehreren.
Eine derartige Welt multipler Strukturbrüche bedeutet, dass die Unsicherheit bezüglich künftiger Marktergebnisse mehrdimensional ist. ‚Mean Reversion‘ ist weiter möglich, aber nur eines von vielen möglichen Ergebnissen. Je umfassender Marktteilnehmer diese Tatsache realisieren, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die neue Normalität von hoher Volatilität geprägt sein wird, nicht nur bei Marktpreisen, sondern auch bei den fundamentalen Grössen, auf denen sie beruhen.
Bad news is good news: Trügerische Erleichterungsrally bei Aktien
In der vergangenen Woche legten vor allem US-Aktien eine bemerkenswerte Rally hin. Sie wurde getrieben durch schwächer als erwartet eingetretene Makrodaten und damit verbunden die Hoffnung, die Fed könne nun den Fuss von der Zinsbremse nehmen, zumindest ein wenig. Der breite S&P 500 legte im Wochenverlauf um 6,5% zu, Technologieaktien sogar weit mehr. In gewisser Weise geschah also, was wir vor wenigen Wochen an dieser Stelle geschrieben haben: Dass nämlich der Markt zu der Überzeugung kam, die Fed werde aufgrund der sich abzeichnenden Wirtschaftsschwäche schon bald das Handtuch werfen. So weit, so gut. Die schlechte Nachricht hierbei ist nur, dass selbstredend auch der Auslöser für diesen vermeintlichen Handtuchwurf, also schwächeres Wachstum bis hin zur Rezession, nicht wirklich gut für die Aktienkurse ist. Und so droht spätestens dann Ungemach, wenn nach dem Ende von Q2 die Berichtssaison losgeht und die Unternehmen wahrscheinlich anfangen werden, skeptischer in die Zukunft zu schauen. Standen bisher im epischen Trade-off zwischen Zinsen und Gewinne erstere im Mittelpunkt, könnte sich in den nächsten Wochen und Monaten das Augenmerk Richtung letztere verschieben.
Dazu kommt, dass auch bezüglich der Frage, ob bzw. wann die Zentralbanken wirklich beginnen, Kreide zu fressen, das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. So wird am Donnerstag mit der PCE-Kerninflation wohl der wichtigste Makro-Datenpunkt für diese Woche veröffentlicht. Kommt die Zahl oberhalb der vom Markt erwarteten 4,7% heraus (was einen leichten Rückgang von 4,9% im Mai bedeuten würde), könnte der Markt wieder eine schärfer einbremsende Fed einpreisen und damit die Entwicklung in die andere Richtung gehen. Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären. Denn nicht nur Marktteilnehmer, sondern auch die Zentralbanken sind auf der Suche nach der angemessenen Positionierung in einer neuen Normalität. In einer Welt multipler Strukturbrüche, in der vielleicht schon bald kaum noch etwas so ist wie vorher, könnte diese Suche noch eine Weile andauern. Für mehr Volatilität gerüstet zu sein, ist in diesem Umfeld sicher keine schlechte Idee. (BlackRock/mc)