Von Ann-Katrin Petersen, Senior Investment Strategist bei BlackRock
Eine der Kernfragen, die sich Anleger derzeit stellen ist, ob die Rally der letzten Wochen doch noch eine Fortsetzung finden kann. Schliesslich gibt es Grund zu der Annahme, dass die jüngste Aufwärtsbewegung an den Aktienmärkten vor allem aus zwei Gründen anfällig für Rückschläge und mehr Volatilität bleibt: erstens verfrühte Hoffnungen auf eine gemächlichere Gangart der US-Notenbank Fed im Rahmen ihrer kraftvollen geldpolitischen Kehrtwende, und zweitens Enttäuschungspotenzial bei den Unternehmensgewinnen. Gerade in Europa schürt die im Zuge der Invasion Russlands in die Ukraine verschärfte Energiekrise nach wie vor Konjunktursorgen.
Obwohl die Zinssorgen der Investoren einhergehend mit sich abflachenden Inflationssorgen (zumindest in den USA) offenbar ihren Höhepunkt überschritten haben, klafft nach wie vor eine grosse Lücke zwischen dem, was Anleger von der US-Notenbank Fed gerade im kommenden Jahr erwarten und dem, was das geldpolitische Gremium der Fed selbst in Aussicht stellt. Notenbankchef Jay Powell wurde bereits vor dem in dieser Woche stattfindenden Symposium in Jackson Hole nicht müde zu betonen, dass aus heutiger Sicht Zinssenkungen im Jahr 2023 eher nicht zu erwarten seien. Der Markt preist hingegen weiter in einer fast störrischen Manier gleich eine ganze Reihe an Senkungen ein. Klar ist, dass am Ende nur eine Partei Recht behalten kann. Da auch das Protokoll der Juli-Sitzung der Fed zeigte, dass die Notenbanker unerschütterlich einer niedrigeren Inflation Priorität einräumen – mit anderen Worten den starken Zielkonflikt zwischen Inflation und Wachstum in einer Welt geprägt von angebotsseitigen Produktionshemmnissen noch nicht anerkennen – erscheint in der kurzen Frist der Ausblick der Notenbanker tatsächlich der realistischere zu sein. Dennoch rechnen auch wir damit, dass die US-Wirtschaft zu Beginn des Jahres 2023 in eine Rezession rutschen könnte. Dieser Einbruch sollte dazu beitragen, dass die Fed verstärkt das Tempo ihres Zinserhöhungszyklus überdenkt.
Neben Überraschungspotenzial für die Märkte aus der Notenbankwelt sprechen aus unserer Sicht zu optimistische Gewinnerwartungen dagegen, der sommerlichen Bärenmarktrally nachzujagen. Gerade der stotternde wirtschaftliche Neustart könnte Nährboden für enttäuschende Gewinne sein. In Europa gibt es vor allem dann viel Enttäuschungspotenzial, wenn Gasrationierungen Realität werden. Trotz einiger Fortschritte bei der Energiesicherheit und dem überraschend zügigen Befüllen der Lagerkapazitäten in den letzten Wochen dürfte es für Deutschland schwierig werden, Engpässe und die Abhängigkeit vom Gasverbrauch bis zum Winter hinreichend zu beseitigen. So liefert Russland über Nordstream 1 mittlerweile nur noch ein Fünftel der möglichen Gasmenge. Darüber hinaus mehren sich – wahrscheinlich politisch motiviert – die Wartungsarbeiten an der Ostsee-Leitung und lassen den Gasstrom immer wieder komplett zum Erliegen kommen. Pünktlich zum Wochenende kündigte Gazprom an, den Gasstrom wegen Wartungsarbeiten vom 31. August bis 2. September zu stoppen. Danach solle der Betrieb wieder im bisherigen Umfang aufgenommen werden, falls es keine technischen Probleme gäbe, erklärte Gazprom. Wohl nur die wenigsten wären überraschend, wenn exakt diese technischen Probleme ausfindig gemacht werden. Und selbst wenn es immerhin bei einer Liefermenge von einem Fünftel bliebe, würde Gas laut der Bundesnetzagentur im Winterhalbjahr knapp. Damit erhöht sich das Risiko, dass durch Berlin die «Notfallstufe 3» ausgelöst wird, also eine physische Gasrationierung für nicht geschützte Verbraucher, einschliesslich der Industrie. In diesem Szenario dürfte es im nächsten Winter, neben harten gesellschaftlichen Debatten, zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung kommen.
Was lässt all dies für die Finanzmärkte erwarten?
Auf Volatilität einstellen: In einer Welt, in der Angebotsfaktoren die erste Geige spielen, erwarten wir einen schwankungsreicheren gesamtwirtschaftlichen Nachrichtenfluss – und damit verbunden eine erhöhte Volatilität an den Finanzmärkten. Es ist ein Umfeld, in dem das Dilemma der Zentralbanken – der Zielkonflikt zwischen Inflation und Wachstum – verstärkt zum Vorschein tritt. Ein zu starkes Anheben der Zinssätze birgt die Gefahr eines wirtschaftlichen Abschwungs. Steigende «Zitterprämien» an den Aktienmärkten kombiniert mit sich merklich eintrübenden Unternehmensgewinnen liessen die Börsen unter Druck geraten. Gleichzeitig stünden die Zentralbanken nicht mehr Gewehr bei Fuss, um sich einem spürbaren Einbruch der Vermögenspreise entgegenzustemmen – was im aktuellen Umfeld gegen die Taktik spricht, bei Kursrückschlägen nachzukaufen («buy the dip»). Ein zu behutsames Vorgehen wiederum brächte die Gefahr sich verselbstständigender Inflationserwartungen mit sich, ginge also mit Gegenwind für die Anleihenmärkte einher, weil Anleger höhere Prämien für längere Laufzeiten verlangen. Kernbotschaft: Beide Szenarien implizieren höhere Risikoprämien.
Mit der Inflation leben: Trotz des «Tamtams» um das Eindämmen der Inflation werden sich die Währungshüter wohl schliesslich mit etwas mehr davon abfinden. Staatsanleihen dürften in einem Umfeld erhöhter Inflationsrisiken aus ganzheitlicher Portfolioperspektive fortgesetzt Diversifikationseigenschaften einbüssen. Attraktivere Chancen ergeben sich bei inflationsgeschützten Staatsanleihen. In langfristig orientierten Portfolios bevorzugen wir weiterhin Aktien gegenüber Staatsanleihen. Kurzfristig sehen wir die Gefahr, dass das Wachstum ins Stocken gerät. Deshalb schätzen wir Aktien der Industrieländer taktisch, d. h. mit Blick auf die kommenden sechs bis zwölf Monate, weniger konstruktiv ein. Wir bevorzugen stattdessen Unternehmensanleihen hoher Bonität (Investment Grade) angesichts attraktiver Bewertungen bei geringem Ausfallrisiko. (BlackRock/mc/ps)