Beim Boxen gilt es wie so oft im Leben, sich möglichst viele Optionen offenzuhalten. Hat man sich erstmal in eine Ecke drängen lassen, schrumpfen die Handlungsmöglichkeiten, es droht die Niederlage. Häufig ist dies der Moment, in dem aus der eigenen Ecke das Handtuch in den Ring fliegt. Es ist das Zeichen der Aufgabe, Eingeständnis der Tatsache, dass der Druck zu gross geworden ist.
von Martin Lück, Leiter Kapitalmarktstrategie in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock
Das Bild der wichtigsten Zentralbanken, die sich mit markigen Ankündigungen restriktiverer Geldpolitik in die Ecke geboxt haben, ist nicht ganz neu, trifft aber wohl die aktuelle Situation ganz gut. Denn auch Fed und EZB haben mit ihren Ankündigungen, die Inflation geradezu koste es was es wolle zu bekämpfen, sehr einseitig festgelegt und kommen aus dieser Situation erst dann wieder halbwegs elegant heraus, wenn die Umstände, sprich: ökonomische Daten, ihnen eine Abschwächung dieser Festlegung erlauben. In den USA ist in den Fed Funds Futures mit einer Wahrscheinlichkeit von gut 94% eingepreist, dass die Notenbank über die beiden als sicher geltenden 50 Basispunkte-Schritte im Juli und September hinaus den Leitzins in diesem Jahr noch um mindestens weitere 75 Basispunkte erhöht. 43% Wahrscheinlichkeit deuten sogar auf 100 Basispunkte hin.
Bedenkt man, dass für diese so sicher erwarteten Schritte dann aber nur zwei FOMC-Sitzungen (2. November und 14. Dezember) zur Verfügung stünden, hiesse diese Preisbildung, dass die Fed Funds Target Rate auf mindestens einem dieser Meetings um 50 Basispunkte angehoben wird. Für wie wahrscheinlich wir ein derart energisches Einbremsen halten (immerhin war der Zinsschritt vom 4. Mai die erste 50 Basispunkte-Anhebung seit mehr als zwei Jahrzehnten), hängt davon ab, wie die US-Wirtschaft auf die verschärften Finanzierungsbedingungen reagiert, wie sich die Weltwirtschaft angesichts unterbrochener Lieferketten und Krieg in Europa weiter entwickelt, und vor allem: wie es mit den Inflationsraten weitergeht.
Womit wir beim Handtuch wären. Denn sollte sich abzeichnen, dass die Inflation sich wieder abschwächt, wird es schwieriger für die Fed, ihre aggressive Straffungsrhetorik beizubehalten. Daher sind Datenpunkte wie jener der letzten Woche so wichtig. Als am Freitagnachmittag der Kerndeflator der persönlichen Konsumausgaben (core PCE) mit ‚nur‘ 4,9% und damit niedriger als der Vormonatswert (5,2%) berichtet wurde, reagierten vor allem zinssensible Technologieaktien positiv. Auch in dieser Woche könnte die Markthoffnung nachlassenden Inflationsdrucks neue Nahrung erhalten. Für den US-Arbeitsmarktbericht am Freitag erwarten Marktteilnehmer, dass die Lohndynamik etwas nachlässt (von 5,5% auf 5,2%) und dass sich bei gleichbleibender Arbeitslosenquote die Partizipationsrate weiter leicht erholt und damit Druck vom Arbeitsmarkt genommen wird. Gleichzeitig richtet sich das Augenmerk auf die Wachstumsindikatoren, von denen mit den ISM-Indizes ebenfalls in dieser Woche stark beachtete Daten auf der Agenda stehen. Bewahrheitet sich die Markterwartung nachlassender Wachstumsdynamik in den USA, dürften Investoren immer sicherer sein, dass bald aus der Zentralbankecke das berühmte Handtuch fliegt.
Europa hat sich auch in die Ecke geboxt, und zwar in eine viel gefährlichere
Während das Bild einer Zentralbank, die mit ihrer taffen Rhetorik zu hohe Zinserwartungen geweckt hat, im Grunde auch für die EZB gilt (mehr als drei Zinsanhebungen bis Jahresende, wie derzeit vom Markt eingepreist, dürfte es in Europa kaum geben), ranken sich in unserem Teil der Welt die Sorgen der Investoren um viel Grundlegenderes. Stück für Stück wird nämlich klar, wie fatal die Illusionen gewesen sind, auf denen das Geschäftsmodell der letzten Jahrzehnte gebaut war. Billige fossile Energie von einer faschistoiden Diktatur zu beziehen, um Produkte herzustellen, die man einer anderen faschistoiden Diktatur verkauft – dieses Modell dürfte seit Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine keine Zukunft mehr haben. Was aber bedeutet ein Ende dieses auf naiven Illusionen gebauten Geschäftsmodells für europäische Unternehmen? Werden sie sich schnell genug anpassen können? Angesichts derart fundamentaler Unsicherheiten erscheint das Warten darauf, dass die Fed das Handtuch wirft, als Luxusproblem.
Womit nicht gesagt ist, dass in dem Moment, in dem der Markt Zinserhöhungen über das neutrale Niveau auspreist, alle Ampeln auf grün stehen. Die Neusortierung der Welt ist in vollem Gange, ein Zurück zum Status Quo ante, also dem Zustand der Globalisierung vor der Pandemie, wird es kaum geben – wegen des Krieges, der veränderten Rolle Ostasiens, auch und vor allem aber wegen der Zentralbanken. Aktienanleger brauchen also einen langen Atem, wenn sie auf die Rückkehr zu alten Höchstständen hoffen. Taktisch haben wir beim BlackRock Investment Institute daher Industrielandaktien auf neutral heruntergestuft. Langfristig bleiben sie deutlich übergewichtet. Dies trägt dem derzeitigen Irrsinn in der Welt Rechnung, aber eben auch der Tatsache, dass Aktien per se langfristige Anlagen sind. (BlackRock/mc)