Am 20. Januar wird Joe Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden, aber die Spaltung des Landes wird anhalten. Schon die enorme Wählermobilisierung, die neben dem Herausforderer auch dem bisherigen Präsidenten gelang und mit der er fast acht Millionen Stimmen mehr erzielte als 2016, ist ein Beleg für die Polarisierung zwischen dem „America First“ des alten und der progressiven Agenda des neuen Amtsinhabers. In der kurzen Frist dürfte sich diese auch nach der Wahl fortgesetzte Spaltung in Unsicherheit bezüglich der politischen Stabilität des Landes äussern.
Längerfristig engt sie die Spielräume künftiger Regierungen weiter ein, weil das auf Kooperation statt Konfrontation der grossen Parteien angelegte Institutionengefüge, das hat die Vergangenheit gezeigt, in Blockadesituationen nur unzureichend funktioniert. Die harten, zunehmend feindseligen Debatten im Kongress besonders seit 2008, der ersten Wahl Obamas, sind ein Warnzeichen.
Insgesamt ist das Ergebnis der diesjährigen Wahl viel weniger deutlich ausgefallen als von den Umfrageinstituten prognostiziert. Nicht nur ist ein Erdrutschsieg für die Demokraten im Rennen um das Weisse Haus ausgeblieben, auch die von vielen erwartete Eroberung des Senats ist wohl gescheitert. Zwar wird es am 5. Januar noch Stichwahlen um die beiden Senatssitze des Bundesstaates Georgia geben, aber nur für den Fall, dass beide Sitze an die demokratischen Kandidaten gehen, hätte die Partei des neuen Präsidenten im Senat Stimmengleichheit mit der republikanischen Opposition erreicht. In diesem Fall wäre doch noch die Minimalversion einer „Blauen Welle“ geschafft, also der Möglichkeit des Durchregierens für die neue Administration, denn die neue Vizepräsidentin Kamala Harris hätte dann die entscheidende Stimme. Nur für diesen Fall wäre mit weitreichenden Veränderungen bezüglich Fiskal-, Gesundheits- und Umweltpolitik zu rechnen.
Viele Marktteilnehmer, die sich vorsichtshalber schon mit Blick auf ein umfassendes Staatsausgabenprogramm unter der neuen Regierung positioniert und damit die Renditen zehnjähriger T-Bonds nach oben getrieben hatten, preisten angesichts des schwachen Abschneidens demokratischer Kandidaten in den Senatswahlen des 3. November einen Teil dieses Renditeanstieges über den Verlauf der letzten Woche wieder aus. In der Tat dürfte das nun zu erwartende Ausgabenprogramm deutlich kleiner ausfallen, auch Steueränderungen sind ohne Kongressmehrheit für die neue Regierung kaum durchzusetzen, ebenso wenig wie der angekündigte Um- und Ausbau der allgemeinen Krankenversicherung (Affordable Care Act) oder die Umstellung der Energieversorgung von fossilen auf nachhaltige Energiequellen, welche nach Vorstellungen des demokratischen Wahlprogramms mit gewaltigen Investitionen verbunden gewesen wäre (Green Deal).
Der schmale Spielraum, welcher der künftigen Regierung vermutlich verbleibt, beschränkt sich daher auf solche Bereiche, in denen die Administration auch ohne Zustimmung des Kongresses erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten besitzt, etwa Regulierung und Aussenpolitik. So dürfte die Biden-Administration in Bezug auf fortschrittlichere Umweltpolitik mit Veränderungen im Regelwerk das zu erreichen versuchen, was ihr durch die fehlende Kongressmehrheit in Sachen „Green Deal“ versagt bleibt, nämlich eine Besserstellung nachhaltiger gegenüber fossilen Energiequellen. Und im Bereich Aussenpolitik, in der in den letzten vier Jahren das Thema Handel in den Mittelpunkt gerückt ist, dürfte eine konstruktivere Haltung gegenüber Europa ein zentrales Anliegen der neuen Regierung sein, während sich die harte Haltung der USA gegenüber China bestenfalls im Ton, weniger aber in der Sache ändern sollte. Insgesamt spricht aber eine weniger globalisierungskritische Haltung der neuen Administration für freundlichere Stimmung im Welthandel. Besonders für Schwellenländer sollte das eine gute Nachricht sein.
Was das für Anleger bedeutet
Die zweite Corona-Welle rast durch Europa und zwingt zahlreiche Regierungen zu ähnlich drastischen Massnahmen wie im Frühjahr. Aber auch in den USA, wo sich in den letzten Tagen pro Tag rund 120.000 Menschen neu infizierten, bleibt die Lage angespannt. Auch wenn wir, wie in früheren Marktausblicken erläutert, nicht mit einem Zurückfallen auf die Rezessionsniveaus des Frühjahrs rechnen, dürften die erneuten Einschränkungen die wirtschaftliche Erholung bremsen. Damit erhöht sich auch die Gefahr, dass Firmen nicht bis zum Verschwinden der Pandemie überleben und dass in deren späten Phase die Arbeitslosigkeit doch noch stark ansteigt. Auf der anderen Seite halten Zentralbanken und die Fiskalpolitik dagegen, mit allem was sie haben. Wie vergangene Woche auch die Fed andeutete, stehen zunächst also die Zeichen auf mehr Stimulus. Sofern sich, wie wir erwarten, der ökonomische Schaden der zweiten Welle in Grenzen hält, dürfte dies vom Markt als Zeichen für eine weiterhin risikogeneigte Haltung gelesen werden. (BlackRock/mc/ps)
Weitere Informationen bietet der Video-Kommentar von Martin Lück: