London – Ein Jahr nach dem Brexit-Votum verdüstern sich die Aussichten für die britische Wirtschaft zunehmend. Am Freitag veröffentlichten Daten zufolge ist die Stimmung der britischen Verbraucher so schlecht wie seit einem vorübergehenden Schock nach dem «Ja» zu einem Austritt aus der Europäischen Union (EU) nicht mehr. Das Wachstum schwächt sich ab, die Exportindustrie gerät ins Stottern, die Reallöhne sinken und die Briten sparen so wenig wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen vor über 50 Jahren.
Die Wirtschaft Grossbritanniens hat zu Beginn des Jahres an Schwung verloren. Im ersten Quartal sei das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zum Vorquartal nur noch um 0,2 Prozent gewachsen, teilte das nationale Statistikamt ONS am Freitag nach endgültigen Daten mit. Ende 2016 war das Wachstum mit 0,7 Prozent noch deutlich höher ausgefallen. Die Abschwächung war zwar von den Statistikern bereits zuvor geschätzt worden und überraschte damit nicht mehr. Aber jetzt wurden neue Daten veröffentlicht, die das düstere Bild untermauern.
Schlechte Stimmung bei den Verbrauchern
Die Stimmung der britischen Verbraucher ist so schlecht wie seit einem vorübergehenden Einbruch nach dem Brexit-Votum nicht mehr. Der entsprechende Indikator des Marktforschungsinstituts GfK fiel im Juni um 5 auf minus 10 Punkte, wie das Institut am Freitag mitteilte. «Der doppelte Druck durch steigende Preise und träges Lohnwachstum belastet die finanzielle Situation der Haushalte und verstärkt die weit verbreitete Furcht vor einer wirtschaftlichen Schwäche infolge des Brexit», sagte GfK-Experte Joe Staton.
Auswirkungen der Parlamentswahlen
Die aktuelle Erhebung hat sowohl vor als auch nach der britischen Parlamentswahl am 8. Juni stattgefunden. Bei der Wahl hatte Premierministerin Theresa May mit ihrer konservativen Partei die Regierungsmehrheit verloren. Die Brexit-Verhandlungen dürften Experten zufolge damit noch schwieriger und unberechenbarer werden.
Auch dies könnte einer der Gründe dafür sein, dass die Stimmung jetzt so schlecht ist wie seit einem kurzzeitigen Einbruch im Juli 2016 nicht mehr, also in dem Monat nach dem Brexit-Votum. Seither hatte die Zuversicht zunächst wieder zugenommen. Die britische Wirtschaft schien das Votum entgegen den Prophezeiungen vieler Ökonomen vorerst gut zu verkraften. Inzwischen hinkt aber die Lohnentwicklung deutlich der Inflation hinterher. Ein wesentlicher Grund dafür ist der Kursverfall des britischen Pfunds infolge des Brexit-Votums, der importierte Güter in Grossbritannien verteuert.
Reallöhne das dritte Quartal in Folge gesunken
Die britischen Reallöhne sind denn auch im ersten Quartal zum dritten Mal in Folge gesunken, was es den Statistikern zufolge seit 40 Jahren nicht mehr gegeben hat. Die Löhne legten also weniger zu als die Preise. Das führt inzwischen dazu, dass die Briten immer weniger sparen. Sie haben im ersten Quartal mit nur 1,7 Prozent den niedrigsten Anteil ihres Einkommens zurückgelegt, der seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1963 gemessen wurde, wie die Statistiker mitteilten. Dabei hätten allerdings auch Steuererhöhungen eine Rolle gespielt.
Besonders ernüchternd ist, dass die Pfund-Schwäche nicht einmal die britischen Exporte stärkt. Dies hatten nach dem Brexit-Votum viele Ökonomen erwartet und als Hoffnungsschimmer für die Insel gesehen. Denn eine schwache Währung macht heimische Produkte aus Sicht des Auslands billiger und kann dadurch grundsätzlich die Nachfrage ankurbeln.
Doch zuletzt ist das Gegenteil passiert. Im ersten Quartal sind die britischen Exporte sogar um 0,7 Prozent gesunken. Die jüngste Pfund-Abwertung sei für Grossbritannien die am wenigsten fruchtbare in der Nachkriegsgeschichte, kommentiert Samuel Tombs, Experte der britischen Denkfabrik Pantheon Macroeconomics. (awp/mc/pg)