London – Im Ringen um einen Brexit-Handelspakt haben sich die EU und Grossbritannien eine letzte Frist gesetzt. Spätestens bis zum Sonntagabend solle eine Entscheidung fallen, twitterte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Mittwochabend nach einem gemeinsamen Abendessen mit dem britischen Premier Boris Johnson in Brüssel. Der erhoffte Durchbruch beim persönlichen Spitzentreffen blieb aus: «Wir haben ein klares Verständnis der jeweils anderen Position bekommen. Sie bleiben weit auseinander», schrieb von der Leyen. Aus britischen Regierungskreisen hiess es, es sei immer noch unklar, ob eine Einigung zustande komme. Premierminister Johnson wolle aber nichts unversucht lassen.
Die Unterhändler und ihre Teams sollen daher noch ein letztes Mal an den Verhandlungstisch zurückkehren, um die verbliebenen Streitpunkte auszuräumen. Die drei Konfliktthemen – Fischerei, fairer Wettbewerb und die Frage nach der Durchsetzbarkeit der Vereinbarungen – sind schon seit Monaten dieselben. Ohne Vertrag drohen ab 1. Januar Zölle und andere Handelshürden. Das könnte zu langen Staus auf der englischen Seite des Ärmelkanals und leeren Regalen in Supermärkten führen, wird befürchtet. Die Wirtschaft rechnet mit schweren Verwerfungen.
Sackgasse
Johnson und von der Leyen hatten sich am Mittwoch in Brüssel verabredet, um die verbliebenen Streitpunkte bei den Verhandlungen über ein Handelsabkommen für die Zeit nach dem Ablauf der Brexit-Übergangsphase zu besprechen. Es war bereits das dritte Gespräch der beiden, seit EU-Unterhändler Michel Barnier und sein britischer Kollege David Frost am vergangenen Freitag erklärt hatten, mit ihrem Verhandlungsmandat in eine Sackgasse geraten zu sein.
Die Zeit drängt. An diesem Donnerstag und Freitag treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs zu ihrem letzten Gipfel des Jahres. Ein Vertrag müsste bis zum 31. Dezember stehen, denn dann läuft die Brexit-Übergangsphase aus. Sollte noch ein Abkommen zustande kommen, müsste es im Europaparlament und im EU-Ministerrat ratifiziert werden. Auch im britischen Parlament wird nach derzeitigem Stand mindestens mit einer Abstimmung über den Handelspakt gerechnet.
London: Weitere Brexit-Gespräche nach Sonntag «unwahrscheinlich»
Die britische Regierung hält Verhandlungen mit der EU über einen Brexit-Handelspakt über die für Sonntag gesetzte Frist hinaus für «unwahrscheinlich». Aussenminister Dominic Raab sagte am Donnerstagmorgen der BBC, er schliesse weitere Gespräche zwar nicht kategorisch aus. Es sei aber wichtig, «Endgültigkeit» zu haben. «Es hängt von den Fortschritten ab, die bis dahin gemacht werden», sagte Raab. Die Sonntagsfrist solle «helfen, die Gedanken zu fokussieren».
Raab sagte, die Unterredung zwischen Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sei ein gutes und offenes Gespräch gewesen. Aber wesentliche Unterschiede blieben bestehen. «Ich glaube nicht, dass wir in diesem Tempo weitermachen können, ohne Fortschritte und Flexibilität zu haben.» Die EU versuche, «uns an ihre Regeln zu binden», sagte Raab.
Falls es doch noch zu einem Vertrag kommt, wäre das britische Parlament bereit, ihn noch dieses Jahr zu verabschieden, sagte der Sprecher des Unterhauses, Lindsay Hoyle. Der letzte planmässige Sitzungstag sei der 21. Dezember. «Aber wenn es sein muss, (…) können wir sogar bis Heiligabend tagen», sagte Hoyle dem Sender Sky News. Wie die Zeitung «The Sun» berichtete, wäre eine Sitzung an Weihnachten die erste an den Feiertagen seit 1656. Auch eine Tagung zwischen Weihnachten und Silvester sei nicht ausgeschlossen.
Einigung auf Umsetzung des Nordirland-Protokolls
Einen Fortschritt hatte es in dieser Woche immerhin gegeben: Die britische Regierung und die EU-Kommission einigten sich auf die Umsetzung des Nordirland-Protokolls aus dem Brexit-Abkommen. Damit ist die grösste Sorge für den Fall eines No Deals weitgehend ausgeräumt. Das Protokoll soll sicherstellen, dass es nicht zu einer harten Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland kommt. Für diesen Fall war mit einem Wiederaufflammen des Konflikts in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gerechnet worden.
London hatte eingewilligt, umstrittene Passagen in einem Gesetzentwurf zu streichen oder zu ändern, die in Brüssel für viel Unmut gesorgt hatten. Das Binnenmarktgesetz sollte nach dem Willen Londons die Bestimmungen des Nordirland-Protokolls aushebeln und damit internationales Recht brechen. (awp/mc/ps)