London – Der britische Premierminister Boris Johnson ist wegen seiner Rede bei der ersten Sitzung im Parlament nach Aufhebung der Zwangspause heftig in die Kritik geraten. Quer durch alle Parteien verurteilten Abgeordnete und viele britische Zeitungen die Wortwahl des Regierungschefs. Johnson sprach von «Kapitulation» und «Verrat» im Hinblick auf den aus seiner Sicht längst überfälligen EU-Austritt.
Vor allem eine Bemerkung über die ermordete britische Politikerin Jo Cox sorgte für Entrüstung. Auf die Bitte einer Labour-Abgeordneten, Johnson solle angesichts von Drohungen gegen Parlamentsmitglieder seine Sprache mässigen, entgegnete er: «Der beste Weg, um das Andenken von Jo Cox zu ehren und dieses Land wieder zu einen, wäre den EU-Austritt zu vollziehen.» Cox, die sich für den Verbleib Grossbritanniens in der Europäischen Union eingesetzt hatte, war 2016 während des Referendums-Wahlkampfs von einem Rechtsextremisten ermordet worden.
«Mann ohne Scham»
Die Zeitung «Daily Mirror» bezeichnete den Premier am Donnerstag als «Mann ohne Scham». Kaum ein Premierminister zuvor habe eine so «schändliche Rede» gehalten. Johnson hatte während der Debatte das vom Unterhaus gegen seinen Willen verabschiedete Gesetz gegen einen ungeregelten Brexit mehrfach als «Kapitulationsgesetz» (Surrender Act) bezeichnet. Der Premier droht damit, das Land am 31. Oktober ohne Abkommen aus der EU zu führen, sollte sich Brüssel nicht auf seine Forderungen nach Änderungen am Brexit-Abkommen einlassen. Wie er das Gesetz umgehen will, ist jedoch unklar.
Abgeordnete seiner Konservativen Partei und der Opposition kritisierten die Kriegsrhetorik des Regierungschefs als «abstossend» und «respektlos». Damit würden nur Aggressionen im Brexit-Streit geschürt, hiess es. Schon jetzt erhielten viele Abgeordnete Morddrohungen. Johnson blieb aber bei seiner Wortwahl.
Auch der Witwer von Jo Cox verurteilte Johnsons Bemerkungen. Ihm werde schlecht, wenn der Name seiner getöteten Frau in einem solchen Zusammenhang benutzt werde, twitterte Cox. Labour-Chef Jeremy Cobyn sagte, Johnsons Sprache sei kaum von der Rechtsextremer zu unterscheiden.
«Schande»
Jo Swinson von den Liberaldemokraten nannte die Bemerkungen des Premiers eine «Schande». Die Parteichefin hatte erklärt, sogar eines ihrer beiden kleinen Kinder werde bedroht. Kulturministerin Nicky Morgan twitterte, dass die Wirkung von Worten in der Öffentlichkeit wohl bedacht werden müsse. Auch sie habe Drohungen erhalten.
Parlamentspräsident Bercow liest Abgeordneten die Leviten
Der insgesamt rüde und laute Ton während der Debatte am Mittwoch darf sich nach dem Willen von Unterhauspräsident John Bercow nicht wiederholen. Möglicherweise werde die Debattenkultur im Hause zum Thema einer Untersuchung, sagte Bercow am Donnerstag. Noch in der Nacht hätten ihn darauf zwei hochrangige Mitglieder des Parlaments angesprochen. Bercow bat die Abgeordneten, ihre Lautstärke zu senken und «sich gegenseitig als Gegner und nicht als Feinde zu behandeln».
«Die Atmosphäre in der Kammer war schlimmer als alles, was ich in meinen 22 Jahren im Unterhaus erlebt habe», sagte Bercow. Sowohl auf der Regierungsseite als auch bei der Opposition habe während der Sitzung am Mittwoch Wut und eine vergiftete Atmosphäre geherrscht – dies müsse sich ändern. Grossbritannien stehe mit Blick auf den geplanten EU-Austritt vor der schwierigsten politischen Situation seit Jahrzehnten. (awp/mc/ps)