Der Bundesrat dribbelt Richtung Mittelfeld, fällt nicht, trotz versuchter Blutgrätsche der SVP, behält die Nerven bei den Öffnungsschritten mit nachvollziehbaren Kriterien. Und dann verstolpert er den Ball mit einer unzeitigen Impfkampagne, einem unnötigen Terrassenstreit mit den Kantonen und einer vergifteten Debatte um mögliche Privilegien für Geimpfte.
Von Helmuth Fuchs
Der nächste Öffnungsschritt soll am 22. März erfolgen, mit der Konsultation der Kantone ab dem 12. März und dem Entscheid des Bundesrats am 19. März. Dabei geht es unter anderem um Kultur- und Sportveranstaltungen mit Publikum in begrenztem Rahmen, Homeoffice-Pflicht, Sport in Innenräumen und die Öffnung von Restaurantterrassen. Der Bundesrat hat bei den geplanten Öffnungsschritten Augenmass bewiesen und die folgenden nachvollziehbaren Kriterien für die geplanten Schritte bekannt gegeben:
- Die Positivitätsrate soll unter fünf Prozent,
- die Auslastung der Intensivplätze mit Covid-19-Patienten unter 250 belegten Betten und
- die durchschnittliche Reproduktionszahl über die letzten 7 Tage unter 1 liegen.
- Zudem soll die 14-Tages-Inzidenz am 17. März nicht höher sein als bei der Öffnung am 1. März.
Viel Lob von vielen Seiten, verständliche Unzufriedenheit bei denjenigen, die immer noch auf Entschädigung oder einem Aufheben des Berufsverbotes warten.
Trotz fehlendem Impfstoffs: Impfkampagne mit Nudging in Richtung des Pflegepersonals
Um die schon vorhandene hohe Impfwilligkeit noch zu erhöhen, hat der Bund eine Impfkampagne gestartet, unter anderem mit dem frisch diplomierten Pflegefachmann und Radiomoderator Patrick Hässig.
Gleichzeitig können im bevölkerungsreichsten Kanton gar nicht alle Impfwilligen bedient werden, da weitere Impfdosen fehlen. Die Covid-19-Erstimpfungen in den rund 400 Alters- und Pflegeheimen im Kanton Zürich sind abgeschlossen. Die Impfquote bei den Bewohnenden betrug 71 Prozent, bei den Mitarbeitenden 44 Prozent. Ein bedeutender Teil des Impfstoffs für die Zweitimpfung wird erst Ende März eintreffen. Impfwillige unter 75 Jahren werden irgendwann in den Sommer hinein vertröstet.
Statt hier das Problem des fehlenden Impfstoffs anzugehen, ist es scheinbar beim Bund wichtiger, denjenigen ein schlechtes Gewissen zu verpassen, die der Impfung kritisch gegenüber stehen.
Der nächste Spaltpilz: Privilegien für Geimpfte
Bundespräsident Guy Parmelan eröffnet im Interview mit der NZZ vom 20.02.2021 das nächste Thema, das die Bevölkerung spaltet. Anstatt auf Hinweis auf fehlende Impfdosen das Thema zu entschärfen, befeuert er eine eh schon gehässige Debatte zwischen «Impftalibanen» und «Impfverweigerern» und gibt klar zu erkennen, wo seine Präferenzen liegen.
«Private Veranstalter können grundsätzlich machen, was sie wollen, sie können Nichtgeimpfte ausschliessen. Wenn ein Musikfestival einen Impfnachweis verlangt, fände ich das nachvollziehbar. Wie wir das im öffentlichen Bereich regeln wollen, müssen wir noch diskutieren. Aber ich würde das Sicherheitsinteresse hoch gewichten.» Bundespräsident Guy Parmelan, NZZ 20.02.2021
Obligatorische negative Tests als Zutrittserlaubnis zu öffentlichen Räumen sind das eine, es ist aber verstörend, wie leicht hier offensichtlich der Übergang zur Impfung als Gewährung zur Ausübung der Grundrechte angedacht wird.
Grundrechte sind bedingungslos allen zuzugestehen und dürfen keinerlei Restriktionen unterliegen. Das wirft auch wieder die Frage auf, ob der Gesundheit alles andere unterzuordnen ist, wie das die aktuellen Massnahmen und Aussagen der Verantwortlichen erahnen lassen und wie es durch das COVID-19-Gesetz abgesichert wird.
Befähigung des Einzelnen satt Lähmung der Bevölkerung
Die zuvor noch klare Zielsetzung «Vermeiden der Überlastung des Gesundheitssystems» ist nach Erreichung des Zieles plötzlich abgelöst worden durch ein schwammiges «Leiden verhindern», wie Alain Berset neu das Ziel der Massnahmen definiert hat (Blick, 17.2.2021). Passend zum schwammigen Ziel steigert sich der Bundesrat dann vom Mikro- zum Nanomanagement, von der akzeptierten Linie zur Willkür, zuletzt im Streit mit den Kantonen um die Benutzung von Aussenterrassen von Restaurants.
Hier würde ein Schritt zurück und ein Blick auf das Gesamtbild helfen: Sind die Massnahmen zielführend und zweckmässig?
Während für jeden Einzelnen die Gesundheit sicherlich mit das wichtigste Gut ist, kann bei entsprechender Information (Abstand, Hygiene, meiden von grossen Menschenansammlungen über längere Zeit) und den zur Erhaltung der Gesundheit nötigen Mitteln (Masken, Medikamente, Impfstoff) jede(r) eigentlich selbst alles unternehmen, um seine Gesundheit zu schützen.
Der Bund könnte sich nach der Bewältigung der Krise wieder auf seine normalen Aufgaben konzentrieren und die «besondere Situation» beenden, statt sich mit immer neuen Verordnungen (aktuell Verordnung 3 mit 42 Seiten) und der Ausweitung der Gesetzesbasis tief in die Belange der Kantone und das Leben der Bürger einzumischen.
Freiheit kommt vor Gesundheit
Abstand gewinnt man auch, indem man einen Blick in die Bundesverfassung wirft. Dort steht in der Präambel schon, was die wichtigsten Güter sind:
Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit…
Erst im Artikel 118 geht es beim Schutz der Gesundheit: «Der Bunde erlässt Vorschriften über die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren.»
Aktuell gibt es eine beunruhigende Tendenz, dass der Staat und seine Repräsentanten sich in der Rolle des allumfassenden Verhinderers allen Leides sehen und ihre Aufgabe auch dahingehend interpretieren. Die teilweise irrationale, durch die Medien stark befeuerte Angst vor einem Virus, das fast ausschliesslich für die ältesten Mitmenschen eine wirklich ausserordentliche und tödliche Bedrohung ist, bildet das Fundament, auf welchem sonst inakzeptable Eingriffe in die Grundrechte gerechtfertigt und von der Bevölkerung bis anhin, wenn auch mit zunehmendem Widerstand, akzeptiert werden.
Der Journalist Heribert Prantl legt in seinem Buch «Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne» dar, was geschieht, wenn Angst Gesetze diktiert. Schon 2010 schrieb er in der Süddeutschen Zeitung
«Der Präventionsstaat muss, das liegt in seiner Logik, dem Bürger immer mehr Freiheit nehmen, um ihm dafür Sicherheit zu geben. Das trägt den Hang zur Masslosigkeit in sich, weil es nie genug Sicherheit gibt. In einem masslosen Staat gibt es vielleicht ein wenig mehr Sicherheit, aber ganz sicher sehr viel weniger Freiheit.» Heribert Prantl
Beginnen, Lehren zu ziehen
Der Zeitpunkt ist jetzt günstig, die Lehren aus den ersten beiden Wellen zu ziehen. Was hat funktioniert (Abstand, Hygiene, vermeiden von Menschenansammlungen, Lockerung nur in Schritten mit genügend Abstand), was nicht (Informationsplattform mit klaren Kennzahlen, Einsatz und Verbreitung der App, Lernkurve der Politiker, kantonalen Behörden, Umsetzung vorhandener Krisenszenarien, Mikromanagemtn des Bundesrates).
Was jetzt benötigt, sind Perspektiven zum Ausstieg aus der «besonderen Lage», schnelle und bedingungslose Rückgabe aller Grundrechte an die Bürger, Fokus auf viel breiteres TTIQ (Testen, Tracing, Isolation, Quarantäne) analog den Erfahrungen in Graubünden. Was wir nicht benötigen sind sinnlose Diskussionen, die nur die Spaltung der Bevölkerung zum Ziel haben.
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