«Ende der Null-Politik»: China lockert umstrittene Covid-Massnahmen
Peking – Es ist das Ende der Null in der chinesischen Covid-Politik: Nach der grössten Protestwelle seit Jahrzehnten in China hat die Regierung in Peking eine Kehrtwende bei ihrer drakonischen Pandemie-Bekämpfung eingeläutet. Ein Zehn-Punkte-Plan sieht Erleichterungen bei Lockdowns, Quarantäne, Testpflicht und Reisen im Land für die 1,4 Milliarden Chinesen vor.
Für Infizierte ohne Symptome oder mit leichten Krankheitsverläufen soll es «grundsätzlich» möglich sein, auch zuhause in Isolation zu gehen. Nach einer Woche sind dann zwei negative PCR-Tests nötig, um sich wieder frei bewegen zu können. Kontaktpersonen sollen sich fünf Tage zuhause isolieren und dann frei-testen können.
Leben mit dem Virus
Statt die Zahl der Infektionen mit Gewalt auf Null bringen zu wollen, wird China damit wie der Rest der Welt also auch versuchen, mit dem Virus zu leben. Die neue Flexibilität ist nach Darstellung des Vizedirektors der Gesundheitskommission, Li Bin, eine Reaktion auf die «Instabilität der Epidemie».
Die Gesundheitsrisiken schwächten sich ab, weil das Virus nicht mehr so viel «Vitalität» habe – eben weniger krankheitserregend ist. Die Omikron-Varianten verbreiteten sich zwar schneller, doch sei massenhaft geimpft worden. Die Vorbeugung und die Kontrolle der Pandemie in China stünden «vor neuen Situationen und neuen Aufgaben».
Grösste Protestwelle seit Jahrzehnten
Die strikten Beschränkungen nach fast drei Jahren Pandemie hatten die Belastung für das Volk und die zweitgrösste Volkswirtschaft an ihre Grenzen stossen lassen. Vor knapp zwei Wochen rollte die grösste Protestwelle seit Jahrzehnten durch mehrere chinesische Städte. Der Unmut richtete sich gegen weitgehende Ausgangssperren, Zwangsquarantäne, ständige Testpflicht und Kontrolle durch die Corona-App.
Die Demonstranten richteten ihren Ärger auch gegen Staats- und Parteichef Xi Jinping und die Kommunistische Partei. In Shanghai wurde «Nieder mit Xi Jinping» und «Nieder mit der Kommunistischen Partei» gerufen. Ein massives Polizeiaufgebot sollte seither neue Proteste verhindern, doch gab es vereinzelt weitere Zwischenfälle.
Wachstum im November praktisch null
Die Lockdowns betrafen einige Hundert Millionen Menschen, die sonst ein Fünftel der Wirtschaftsleistung erwirtschaften. So kam das Wachstum der zweitgrössten Volkswirtschaft im November praktisch zum Stillstand. Die Störung der Lieferketten beeinträchtigt auch den Aussenhandel, der ohnehin auf schwache globale Nachfrage stösst und in dem Monat den stärksten Einbruch seit Beginn der Pandemie erlebte.
Lockdown eingrenzen
Nun sollen sich Lockdowns nur noch auf Gebäude, Wohneinheiten, Stockwerke oder Haushalte beziehen – nicht «willkürlich» auf ganze Stadtbezirke, Strassen oder gesamte Gegenden ausgeweitet werden, wie der Staatsrat mitteilte. Gesundheitscodes als Nachweis der Unbedenklichkeit oder negative PCR-Tests sollen auch nicht mehr notwendig sein, wenn Menschen zwischen Regionen reisen.
Weniger Tests
Die Zahl und Häufigkeit der Tests, die Kosten in Milliardenhöhe für die Kommunen verursachen, sollen verringert werden. Ein negativer PCR-Test sei künftig nicht mehr generell nötig – ausser in Grund- und Mittelschulen, medizinischen Einrichtungen, Pflegeheimen oder auch Waisenhäusern, hiess es weiter. Wichtige Staatsorgane, grosse Unternehmen und andere spezielle Einrichtungen könnten trotzdem nach ihren eigenen Vorbeugungsplänen handeln.
Seit ein paar Wochen wird China von der grössten Welle Infektionen seit Beginn der Pandemie heimgesucht – auch wenn die absoluten Zahlen im internationalen Vergleich niedrig sind. Die Gesundheitskommission berichtete am Mittwoch von rund 25’000 Neuinfektionen an einem Tag. Die Zahlen sind seit Tagen rückläufig, nachdem Ende November ein Höchststand von rund 40’000 erreicht worden war.
Vize-Ministerpräsidentin Sun Chunlan hatte schon vergangene Woche angedeutet, dass es zu einem Kurswechsel kommen könnte. Sie sprach von einem «neuen Stadium» in der Pandemie, da die Omikron-Variante nicht mehr so krankheitserregend sei und mehr Menschen geimpft seien. Befürchtet wird nun aber, dass die Zahlen durch die Lockerungen wieder deutlich steigen könnten. Experten warnen, dass das schlecht entwickelte Gesundheitssystem überfordert sein könnte.
Jetzt droht eine Infektionswelle
«Es ist ein echter Schnitt», kommentierte ein europäischer Gesundheitsexperte in Peking. «Man kann schon sagen, dass es das Ende der Null-Politik ist.» Als Folge drohe jetzt eine Infektionswelle. Es gehe darum, die Kurve der Infektionen «flach zu halten». Der Experte sprach von «einem Rennen zwischen dem Virus und den Impfungen – mit etwas unbekanntem Ausgang in Bezug auf die Zahl der Toten».
Wichtig sei, dass die Impfung besonders älterer Menschen vorangetrieben werde. Aus Angst vor Nebenwirkungen wurden Ältere in dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land bislang weniger geimpft und sind nur unzureichend geschützt. Nur 40 Prozent der Menschen, die älter als 80 sind, haben bislang eine Booster-Spritze bekommen.
Der Impfexperte der Gesundheitskommission, Zheng Zhaowei, warb für Impfungen und versicherte dem Milliardenvolk, dass die chinesischen Vakzine sicher seien: «Die Vorteile nach einer Impfung überwiegen die Risiken bei weitem.» Ausländische Experten wiesen aber auch darauf hin, dass es der Bevölkerung an natürlicher Immunität fehlt, da es im abgeschotteten China bisher kaum Infektionen gab. (awp/mc/pg)