Covid-19 und die Zukunft internationaler Lieferketten
St. Gallen – Die Pandemie hat die Debatte über die Vor- und Nachteile hochgradig koordinierter globaler Lieferketten in der verarbeitenden Industrie neu entfacht. Frank Pisch analysiert Daten von französischen Produzenten in «Just-in-time»-Produktionsnetzwerken, um die Aussichten für den internationalen Handel in einer Welt nach Covid-19 zu untersuchen.
Seit den Anfangstagen von Covid-19 stehen globale Lieferketten im besonderen Fokus der Öffentlichkeit. Doch schon vor Beginn der Krise stand das Geschäftsmodell hochgradig koordinierter und effizienter internationaler Liefernetzwerke unter Druck. Ein zunehmend unsicheres politisches Umfeld spätestens seit der Grossen Rezession 2008/09 und die sich abzeichnenden Auswirkungen des Klimawandels haben Zweifel hinsichtlich der Robustheit, der Widerstandsfähigkeit und der Struktur solcher globaler Lieferketten hervorgerufen.
Sowohl empirische als auch konzeptionelle Forschung auf volkswirtschaftlicher Ebene, die diese Debatte anleiten könnte, ist überraschend limitiert. Um an beiden Fronten Fortschritte zu erzielen, benutze ich Daten von französischen Industriefirmen über den Zeitraum 1997-2006 und präsentiere eine umfassende empirische Charakterisierung von «Just-in-time»-Lieferketten (JIT). Auf der Grundlage eines konzeptionellen Modells, das die Muster in den Daten gut erklären kann, diskutiere ich mögliche langfristige Auswirkungen auf Lieferketten in der Welt nach Covid-19.
JIT-Lieferketten sind auf den Austausch von Informationen angewiesen
JIT-Lieferketten sind der Inbegriff einer schlanken und hochgradig koordinierten Produktion. Lieferanten und Kunden entlang der Wertschöpfungskette koordinieren sich derart, dass fertiggestellte Zwischen- oder Endprodukte sofort abgeholt und weiterverarbeitet werden, anstatt zunächst eingelagert zu werden. Dieses Managementparadigma – in den 1970er Jahren vom japanischen Autohersteller Toyota entwickelt (Ohno, 1988) – stützt sich in hohem Masse auf Informationsaustausch: Erst wenn ein Kunde seine genau spezifizierten Aufträge an seinen Lieferanten weitergibt, nimmt dieser die Produktion auf.
Ich messe den Grad der Einbettung einzelner Unternehmen in solche JIT-Lieferketten anhand von qualitativ hochwertigen Umfragen bei mehr als 3’000 französischen Fertigungsunternehmen für den Zeitraum 1997-2006. In diesem Datensatz erklärt jedes Unternehmen, ob es von seinen Lieferanten im Rahmen von JIT beliefert wird oder selbst seine Kunden dergestalt beliefert. Der Reichtum an weiteren vertraulichen Informationen, der Forschern für französische Unternehmen bereitgestellt wird, erlaubt es mir, JIT mit Nicht-JIT-Unternehmen und ihren jeweiligen Lieferketten zu vergleichen, um ein umfassendes Bild ihrer Organisationsstruktur zu zeichnen.
JIT-Lieferketten sind weit verbreitet und bedeutsam für die Volkswirtschaft
JIT-Lieferkettenmanagement ist in allen Zweigen der verarbeitenden Industrie weit verbreitet, und JIT-Firmen sind wesentlich grösser und produktiver als ihre «traditionelleren» Pendants. Infolgedessen sind JIT-Lieferkettenmanagementpraktiken von grosser gesamtwirtschaftlicher Bedeutung: Etwa zwei Drittel aller französischen Fertigungsmitarbeiter sind in JIT-Lieferketten beschäftigt, und mehr als 60% des französischen internationalen Handelsvolumens lassen sich auf JIT-Firmen zurückführen.
Just-in-time-Lieferketten sind regional konzentriert und vertikal integriert
Mithilfe internationaler Handelstransaktionen ist es möglich, Lieferanten und Kunden für alle Firmen auf Länderebene zu lokalisieren und so die räumliche Struktur von JIT- und Nicht-JIT-Ketten zu vergleichen. Abbildung 1 veranschaulicht das Hauptergebnis für Europa. Zunächst werden alle Länder gemäss ihrer Entfernung zu Frankreich in fünf gleichgrosse Gruppen eingeteilt. Der Unterschied im (logarithmischen) Handelsvolumen zwischen Firmen in JIT- und Nicht-JIT-Lieferketten wird anschliessend auf Gruppenebene gemittelt und in der Karte aufgetragen; dunklere Farben bedeuten grössere Unterschiede.
Der internationale Handel in JIT-Lieferketten ist im Vergleich zu «traditionelleren» Netzwerken verzerrt und räumlich stärker konzentriert. Dieses Muster ist gesamtwirtschaftlich bedeutsam: In «traditionelleren» Lieferketten fällt das Handelsvolumen zwischen der ersten und dritten Entfernungsgruppe von Ländern um etwa 3,5 log-Punkte. Meine Schätzungen implizieren, dass Handel in JIT-Lieferketten um etwa 10% stärker in der Entfernung zum Handelpartner fällt – ein substanzieller Unterschied.
Schliesslich können Daten über die industriellen Aktivitäten und den internationalen innerbetrieblichen Handel von Unternehmen und ihren Tochtergesellschaften verwendet werden, um zu verstehen, welche Stufen einer Wertschöpfungskette innerhalb der Grenzen des (multinationalen) Unternehmens verbleiben. Ich kann zeigen, dass französische Firmen in JIT-Lieferketten – wiederum im Vergleich zu ihren «traditionelleren» Pendants – mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Zwischenprodukt intern, also nicht fremdbeziehen, sowohl im Inland als auch über Ländergrenzen hinweg.
Erläuterungen zur Struktur von JIT-Lieferketten
Stellen Sie sich ein Segment einer Lieferkette vor, in dem ein einzelner vorgelagerter Lieferant ein Zwischenprodukt herstellt, das an eine nachgeschaltete Käuferfirma geliefert wird, welche es wiederum zur Herstellung ihres eigenen Gutes verwendet. In einer unsicheren Welt sind beide Unternehmen andauernd von unerwarteten Veränderungen in ihrem Umfeld –– Schocks – betroffen. In einer sequentiellen Lieferbeziehung wie dieser ist es für beide Akteure von grösster Bedeutung, Anpassungsentscheidungen koordiniert zu treffen, da sonst kostspielige Lagerbestände für einen reibungslosen Betrieb erforderlich sind.
Wenn die Lieferkette gemäss einem «traditionelleren» System arbeitet, werden nur wenige oder gar keine Informationen mit den vorgelagerten Stufen in der Wertschöpfungskette geteilt («Make-to-Stock»-Paradigma), sodass die Fähigkeit des Lieferanten, seine Anpassungsentscheidungen mit dem Käuferunternehmen zu koordinieren, begrenzt ist. In JIT-Lieferketten hingegen basiert die Produktion auf einem Nachfragesignal, das zwischen Kunde und Lieferant in Echtzeit ausgetauscht wird und so eine Reduzierung der Lagerhaltungskosten ermöglicht.
Dieser positive Effekt von JIT Management ist stärker, wenn Lieferanten- und Käuferwerk in räumlicher Nähe zueinander liegen. Andernfalls dauert der Versand von Zwischenprodukten zu lange und die Nachfragebedingungen haben sich potenziell verändert, bis die Lieferung eintrifft. Darüber hinaus profitieren vertikal integrierte Produktionsnetzwerke besonders stark, da das Lieferantenwerk gezwungen werden kann, Nachfrageinformationen bestmöglich zu nutzen und so die Effizienz der gesamten Lieferkette zu maximieren. Meine empirischen Ergebnisse werden daher durch organisatorische Komplementaritäten erklärt: JIT Management ist effektiver für regional konzentrierte und integrierte Produktion.
Globale Liefernetzwerke nach Covid-19
Was können wir durch meine Forschung über die langfristigen Auswirkungen von Covid-19 auf globale Lieferketten lernen? Ein möglicher Effekt der Krise ist eine Zunahme von (gefühlter) Unsicherheit. Covid-19 mag ein seltenes, «black swan» Ereignis sein, aber es wird deutlich, dass pandemische Ereignisse in einer globalisierten Welt immer wahrscheinlicher werden. Darüber hinaus hat die Krise durch ihren disruptiven Charakter die Aufmerksamkeit auch auf andere Arten von Risiken gelenkt, zum Beispiel auf solche, die mit dem Klimawandel verbunden sind.
Mein konzeptionelles Modell impliziert, dass alle Versorgungsnetze, unabhängig von ihrer Organisationsstruktur oder ihrem Management, einen Anstieg der Lagerbestände zur Abfederung künftiger Risiken erleben werden. Entscheidend ist jedoch, dass die zusätzlich entstehenden Kosten für JIT-Lieferketten vergleichsweise niedriger – und nicht etwa höher – sein werden. Der Grund hierfür ist, dass die Verwaltung zusätzlicher Lagerbestände bei sorgfältigem Informationsaustausch und enger Koordination entlang der Wertschöpfungskette deutlich billiger ist. Vielleicht entgegen der landläufigen Meinung (und in Übereinstimmung mit Miroudot, 2020) werden sich hochgradig koordinierte JIT-Liefernetzwerke nicht unbedingt zurückbilden.
Diese Erkenntnis hat wichtige Auswirkungen auf den internationalen Handel und grenzüberschreitende Kapitalströme. Da es eine Komplementarität zwischen der räumlichen Nähe von Geschäftspartnern und JIT-Lieferkettenmanagement gibt, kann der internationale Handel einen Schub in Richtung stärkerer Regionalisierung erfahren – angetrieben von Überlegungen zur Widerstandsfähigkeit und Robustheit von Handelsketten und völlig losgelöst von protektionistischen Tendenzen.
Eine interessante Frage, die derzeit häufig diskutiert wird, ist, ob es ein verstärktes «Re-shoring» von Aktivitäten nach Europa oder Nordamerika geben wird. Meine Forschungsergebnisse implizieren eine Vertiefung lokaler Produktionsnetzwerke; in dem Masse, wie dies auch innerhalb Chinas und Südostasiens geschieht, ist es wahrscheinlicher, dass zunehmend Endprodukte oder komplexere Komponenten interkontinental gehandelt werden.
Da JIT-Lieferketten tendenziell stärker integriert sind, kommt schliesslich jede Zunahme von Unsicherheit insbesondere den grossen, oft multinationalen Konglomeraten zugute, die Koordinationsvorteile besitzen. Zumindest in der verarbeitenden Industrie können daher ausländische Direktinvestitionen steigen und Grosskonzerne profitieren – zu Lasten von Produktionsketten mit vielen kleinen und mittleren eigenständigen Unternehmen.
Frank Pisch ist Assistenzprofessor für Volkswirtschaftlehre am Schweizerischen Institut für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung (SIAW-HSG).