CS Europa Barometer: Mehrheit will selbstbewussteres Auftreten gegenüber dem Ausland und Weiterentwicklung der bilateralen Verträge
Zürich / Luzern – Eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer wünscht sich eine Weiterentwicklung der Beziehungen mit der EU, fordert aber gleichzeitig ein selbstbewussteres Auftreten der Politik gegenüber dem Ausland. Ereignisse wie der Brexit oder die anhaltende Pandemie haben die EU in den Augen des Schweizer Stimmvolkes deutlich geschwächt. Eine Mehrheit vertraut zudem nach wie vor auf den Handel mit grossen Drittstaaten, sollte sich der europäische Marktzugang für die Schweizer Wirtschaft verschlechtern. Dies zeigt das vierte Credit Suisse Europa Barometer, eine repräsentative Umfrage von gfs.bern im Auftrag der Credit Suisse und in Zusammenarbeit mit dem Europa Forum Luzern.
Eine deutliche Mehrheit von 77 Prozent der Schweizer Stimmberechtigten erachtet stabile Beziehungen der Schweiz mit der Europäischen Union (EU) als wichtig. Für fast ebenso viele (76 Prozent) sind in diesem Zusammenhang die bilateralen Verträge nach wie vor eher oder sehr wichtig. Eine Mehrheit wünscht sich zudem eine Weiterentwicklung der Zusammenarbeit mit der EU, in erster Priorität über das institutionelle Rahmenabkommen – allerdings nicht zu jedem Preis, denn das Schweizer Stimmvolk zeigt sich im Jahr der Corona-Pandemie selbstbewusst gegenüber dem Ausland: Knapp drei Viertel wünschen sich eine selbstbewusstere Politik gegenüber den internationalen Handels- und Verhandlungspartnern. Zu diesem Schluss kommt das vierte Credit Suisse Europa Barometer. Die Ergebnisse sind Teil des Credit Suisse Sorgenbarometer 2020, das am 19. November 2020 erscheint.
Weiterentwicklung des bilateralen Weges gewinnt an Zustimmung
Das Europa Barometer zeigt zudem, dass sich eine klare Mehrheit von 65 Prozent eine Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU wünscht. Dies entspricht einer beachtlichen Zunahme um 13 Prozentpunkte (pp) im Vergleich zu 2019. 18 Prozent möchten den Status Quo zumindest möglichst halten (-6 pp), und nur noch 12 Prozent wünschen sich eine Reduktion der Zusammenarbeit mit der EU (-3 pp). Das institutionelle Rahmenabkommen hat bei den Befürwortern einer Weiterentwicklung der Zusammenarbeit an Zustimmung eingebüsst: 53 Prozent favorisieren die Fortsetzung der bilateralen Verträge über das Rahmenabkommen als erste Priorität, was einer Abnahme von 10 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr entspricht. 27 Prozent wollen dieses primär neu verhandeln (+10 pp). Ein EWR-Beitritt (erste Priorität für 9 Prozent) sowie ein Beitritt zur EU (erste Priorität für 7 Prozent) sind auch 2020 kein Thema. Insgesamt wird das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU zwar mehrheitlich wahrgenommen, im Verlaufe des letzten Jahres konnte das Vertragswerk jedoch nicht weiter an Profil dazugewinnen. Studienautor Lukas Golder von gfs.bern: «In der Zeit zwischen Ende 2019 und dem Befragungszeitpunkt im Juli und August, in der vor allem die Sozialpartner über den Inhalt des Abkommens konsultiert wurden, blieb der Anteil jener Stimmberechtigter, welche das Dossier aktiv wahrgenommen haben, bei rund 60 Prozent konstant. Das liegt wohl auch daran, dass die Diskussion um das Rahmenabkommen erst nach der Abstimmung zur Begrenzungsinitiative diesen Herbst neu lanciert wurde.»
Selbstbewusste Schweizerinnen und Schweizer
2020 ist mit der sogenannten Begrenzungsinitiative erneut eine Volksinitiative gescheitert, die das Verhältnis der Schweiz mit der EU belastet hätte. Nach der Ablehnung der Initiative gilt es nun, die Weiterentwicklung der Beziehungen über das institutionelle Rahmenabkommen anzugehen. In diesem Kontext ist das Schweizer Stimmvolk seit 2017 zunehmend der Meinung, dass sich die Schweizer Politik gegenüber dem Ausland – und entsprechend auch gegenüber der EU – (zu) defensiv verhält. 69 Prozent erachten das Auftreten gegenüber dem Ausland als sehr oder eher defensiv, was einem Anstieg von 24 Prozentpunkten in den letzten drei Jahren entspricht. Diese empfundene politische Zurückhaltung entspricht jedoch nicht dem Wunsch des Elektorats. Im Gegenteil: Eine deutliche Mehrheit von 73 Prozent wünscht sich, dass sich die Schweizer Politik eher oder viel offensiver gegenüber dem Ausland verhält. In den letzten Jahren hat sich dieser Wunsch noch akzentuiert (+5 pp gegenüber 2019). Dieses Selbstbewusstsein wird zudem durch die Erkenntnis gestützt, dass neun von zehn Schweizerinnen und Schweizer das Ansehen des eigenen Landes im Ausland als gut einschätzen – 26 Prozent empfinden das Image des eigenen Landes sogar als «sehr gut».
Geschwächtes Europa – Chance für die Schweiz?
Während das Elektorat vom eigenen guten Image im Ausland überzeugt ist, zeigt es sich in der Beurteilung der Entwicklungen innerhalb der EU kritisch: 75 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer sind der Meinung, dass die EU durch die Ereignisse in den letzten zwölf Monaten sehr oder eher geschwächt wurde (+10 pp im Vergleich zu 2019) und nur 12 Prozent finden, die EU sei heute eindeutig oder eher gestärkt.
Christof Wicki, Direktor Europa Forum Luzern, ordnet diesen Befund wie folgt ein: «Die hohe Verschuldung verschiedener Mitgliedsstaaten, die Flüchtlingskrise an den EU-Aussengrenzen, der Brexit, demokratiepolitische Herausforderungen im Innern und zunehmend schwierige Beziehungen zu Partnern wie den USA oder auch China dürften zu diesem Ergebnis beigetragen haben. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass sich das Schweizer Stimmvolk selbstbewusst gegenüber der EU zeigt.»
Mit in die Bewertung der letzten zwölf Monate fliessen auch die Bewältigung und die Folgen der Corona-Krise ein. 77 Prozent der Schweizer Stimmberechtigten finden, dass Europa aufgrund der Corona-Pandemie auseinandergedriftet ist, und nur 16 Prozent sind der Meinung, dass die Pandemie den Staatenbund zusammengeschweisst habe.
Handel mit Drittstaaten als mögliche Kompensation
Die Ergebnisse des Europa Barometer 2020 zeigen, dass sich der Optimismus der Schweizer Stimmbevölkerung im Falle sich verschlechternder Handelsbeziehungen mit der EU gegenüber dem Vorjahr etwas gedämpft hat: Insgesamt geht noch eine knappe Mehrheit von 53 Prozent (-7 pp) des Elektorats davon aus, dass eine Verstärkung des Handels mit grossen Drittstaaten wie den USA oder China den entstehenden Verlust durch abnehmende Handelsvolumina mit der EU tendenziell oder auf jeden Fall ersetzen kann. Der Anteil jener Personen, die hingegen der Meinung sind, dass ein solcher Ersatz eher nicht oder auf keinen Fall möglich ist, hat im Vergleich zum Vorjahr um 12 Prozentpunkte auf 40 Prozent zugenommen. Gefragt, welche Strategie die Schweiz angesichts der zunehmenden machtpolitischen Kämpfe der Grossmächte im Welthandel verfolgen sollte, bevorzugen 53 Prozent (+4 pp) eine eigenständige Nischenpolitik und nur 35 Prozent (+1 pp) wünschen sich eine stärkere Anlehnung an eine geeinte EU-Position, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken.
Manuel Rybach, Global Head of Public Policy and Regulatory Affairs der Credit Suisse, merkt hierzu an: «Im Vergleich zum letzten Jahr sind mehr Schweizerinnen und Schweizer der Ansicht, dass die Handelsbeziehungen mit der EU wichtig sind und nicht durch neue Abkommen mit Drittstaaten ersetzt werden können. Dies ist eine realistische Einschätzung. Doch es gilt: Das eine tun und das andere nicht lassen. Die EU ist zwar mit Abstand der bedeutendste Handelspartner der Schweiz, Freihandelsabkommen mit Drittstaaten sind aber eine wichtige Ergänzung für unsere Exportwirtschaft.» (Credit Suisse/mc/ps)
Über das Credit Suisse Europa Barometer
Im Rahmen einer Kollaboration der Credit Suisse mit dem Europa Forum Luzern wird seit 2017 das Europa Barometer erhoben. Die Ergebnisse der Umfrage basieren auf den Ergebnissen des Credit Suisse Sorgenbarometer, das seit 1976 Daten zu den grössten Sorgen der Schweizer Stimmbevölkerung, zu ihrem Vertrauen in Akteure aus Politik und Wirtschaft sowie zu Identitätsfragen erhebt. Die Fragen zum Verhältnis der Schweiz mit Europa wurden den Teilnehmenden im Rahmen der Erhebung für das Sorgenbarometer 2020 gestellt. Insgesamt wurden 1’798 Schweizer Stimmberechtigte zwischen Juli und August 2020 in einem MixedMode-Verfahren befragt. Das Credit Suisse Sorgenbarometer 2020 erscheint am 19. November 2020.
Über das Europa Forum Luzern
Seit über 20 Jahren ermöglicht das Europa Forum Luzern einen konstruktiven Dialog auf höchster Ebene und setzt Impulse für eine starke Schweiz und ein starkes Europa. Es ist DIE Gesprächs- und Ideenplattform und bringt Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zusammen. Das Europa Forum Luzern bietet Orientierung in Zeiten der Unübersichtlichkeit. Weitere Informationen finden sich unter europaforum.ch.