Von Oktober bis zum 24. Februar konnten wir täglich in jeder Zeitung erstaunlich genaue Schätzungen lesen, wo Russland wie viele Truppen für einen möglichen Angriff auf die Ukraine zusammengezogen hatte. Bis in die ersten Kriegswochen gelang es hingegen der Ukraine, auch nur die ungefähre Position ihrer Streitkräfte zumindest vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Inzwischen aber lässt sich das ukrainische Dispositiv bei Kriegsausbruch recht genau rekonstruieren. So viel vorweg: Auf die ukrainische Staatsführung werden dereinst schwierige Fragen zukommen.
Von Dr. Fritz Kälin
Stärke der ukrainischen Landstreitkräfte bei Kriegsausbruch
Die ukrainischen Bodentruppen sind hauptsächlich in Brigadestärke organisiert. Eine reguläre ukrainische Brigade hat bis zu 4’000 Soldaten, die mit gepanzerten Kampffahrzeugen, Artillerie und Unterstützungsformationen das volle Spektrum konventioneller Landkriegführung beherrschen. Wenn nicht anders vermerkt (Reserve, Nationalgarde, Territorial) sind hier die regulären aktiven Brigaden des Heeres, der Marineinfanterie und der Luftlandetruppen gemeint.
Für Kriegsbeginn dürfen Seitens der Ukrainer gegen 200’000 Soldaten in 30 regulären Manöverbrigaden angenommen werden, die angesichts der Bedrohung ihre Verteidigungsräume längst bezogen hatten. Von den kurz vor Kriegsbeginn mobilisierten Reservisten hatten 50’000 regelmässiges Auffrischungstraining erhalten. Von der paramilitärischen Nationalgarde (60’000 Angehörige) sind nur einzelne Brigaden von echtem Kampfwert in einem konventionellen Krieg. Ihr Gros sind leichte Truppen für Schutzaufgaben im rückwärtigen Raum. Das gilt auch für die rund 25 Territorialbrigaden, deren Angehörige aber erst bei Kriegsausbruch selbständig einrücken mussten.
Quantitativ verfügte die Ukraine über die wohl stärkste einsatzbereite Landstreitmacht Europas. Angesichts einer Bedrohung durch eine Atommacht mit überlegener Luftwaffe und Marine musste Kiev seine Kräfte entlang einer 3000 Kilometer Landgrenze und über 1000 km Schwarzmeerküste trotzdem mit Bedacht verteilen.
Kräfteverhältnisse gegenüber Russland und geografische Faktoren
Mit Ausnahme der Stellungsfront entlang der Separatistenfront und dem Landübergang zur Krim warteten die Truppen in sinnvoller Distanz zur Grenze respektive den aufmarschierten Russen. Die russischen Invasionstruppen waren den regulären ukrainischen Truppen, wenn überhaupt, quantitativ nur unbedeutend überlegen. Moskau konnte seine Verbände für offensive Operationen aber nach Belieben konzentrieren. Zwar liess ihr Aufmarsch keinen klaren Schwerpunkt erkennen. Zumindest auf der Krim und im Aufmarschraum für Richtung Kiev befanden aber überdurchschnittlich grosse Truppenkonzentrationen. Für diese Kräftekonzentrationen mussten die ukrainische Hauptstadt und der für die Wasserversorgung der Krim unverzichtbare Damm am Dnjepr als lohnende Angriffsziele angenommen werden. Das Terrain eignete sich im Februar, stark vereinfacht ausgedrückt, im Norden der Ukraine eher schlecht und im südlichen Küstenraum sehr gut für Angriffe von Panzerverbänden.
Nordgrenze gegenüber Belarus und Russland (inklusive Grossraum Kiev): Ca. 3 Brigaden
Die beiden nördlichen Anmarschrouten nach Kiev waren beidseits des Dnjepr nur durch jeweils eine Brigade gedeckt. Nahe beim Flughafen Hostomel westlich Kiev war zudem die 4. Brigade der Nationalgarde stationiert. Diese überschaubaren Kräfte blieben während den ersten zwei Kriegstagen standhaft, bis sie von zwei aus anderen Landesteilen herangeeilten Brigaden verstärkt wurden.
Nordostgrenze (inklusive Grossraum Charkiv): Höchstens 3 Brigaden
Die Hauptlast der erfolgreichen Verteidigung der Grossstadt Charkiv soll von einer einzigen mechanisierten Brigade getragen worden sein. Das wichtige Strassenkreuz in der grenznahen Stadt Sumy wurde sogar nur von nicht-regulären Truppen erfolgreich verteidigt. Eine motorisierte und eine weitere mechanisierte Brigade können ebenfalls diesem langen Grenzraum zugeordnet werden.
Südliche Küstenregion und Krim-Landübergang: Mindestens 4 Brigaden
Die überaus wichtige Hafenstadt Odessa war stark gedeckt. Mindestens eine mechanisierte und eine Reservepanzerbrigade sorgten zusammen mit zahlreichen leichteren Truppen dafür, dass Odessa für Handstreiche von See oder durch luftmobile Truppen kein einladendes Ziel darstellte.
Die Landbrücke zur Krim war hingegen nur von einer Luftlandebrigade besetzt. Eine motorisierte Brigade befand sich weiter nordwestlich vor Kherson in Reserve. Beide Verbände wurden vom Angriff völlig überrumpelt und mussten sich den Fluchtweg über die von russischen Luftlandetruppen bereits eingenommenen Dnjepr-Brücken verlustreich freikämpfen. Den aus der Krim ausgebrochenen Angreifern gelangen so im Süden die bislang grössten nachhaltigen Geländegewinne.
Ostukraine mit der seit 2015 umkämpften Donbassfront: 10-20 Brigaden*
Für die Verteidigung aller bisher beschriebenen Räume scheint die Ukraine bestenfalls die Hälfte ihrer Manöverbrigaden vorgesehen zu haben. Folglich konzentrierten sich gut die Hälfte der verfügbaren Kampftruppen um die alte Donbass-Stellungslinie und im östlichsten Grenzraum. Entlang dieser seit 2015 eingefrorenen Front hatten beide Seiten acht Jahre lang robuste Stellungen ausgebaut. Teile dieser Verteidigungslinie halten den russischen Angriffen bis heute stand. Dieser Teil der freien Ukraine bedurfte also am wenigsten der Verstärkungen durch so viele zusätzliche Manöververbände.
*Die Schätzungsbreite ergibt sich daraus, dass der Aufenthaltsraum vieler Brigaden bei Kriegsbeginn noch nicht eindeutig geklärt ist. Wenn sie aber in den zuvor genannten Grenzräumen gewesen wären, wäre dies infolge der inzwischen recht gut dokumentierten Kämpfe bekannt.
Einschätzung
Indem Kiev das Gros seiner besten Truppen um die alte Donbassfront zusammenzog, sahen sich die Verteidiger der Hauptstadt und an der Krimlandbrücke einer erdrückenden Übermacht potenzieller Angreifer gegenüber. In den Separatistengebieten erfolgte am 19. Februar eine Generalmobilmachung. Am 21. Februar schickte Russland eigene reguläre Truppen in diese selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Aus heutiger Sicht ist es zumindest unklar, ob das ein fester Bestandteil des russischen Invasionsplans war, oder eine Reaktion auf die klare ukrainische Schwerpunktbildung, die der russischen Aufklärung sicherlich nicht entgangen war. Der ukrainische Aufmarsch im Donbass bot sich der russischen Propaganda ideal an, um zu einer existentiellen Bedrohung für die Separatistengebiete hochstilisiert zu werden.
Für Spekulationen, weshalb die Ukraine ihre Kräfte wie beschrieben verteilt hat, ist es zu früh. Wir wissen auch nicht, ob Präsident Wolodymyr Selenskyj sich auf das Urteil seiner Armeeführung verliess, sie bevormundete oder mit ihr einhellig übereinstimmte, dass diese Kräftedisposition das Land am besten schützen würde. Aus dem Nachhinein betrachtet, aber auch schon aufgrund des russischen Aufmarschdispositivs, barg die Schwerpunktbildung im Donbass folgende Risiken:
- Hätte der riskante russische Angriff auf Kiev die dortigen Verteidiger genauso überrumpelt wie im Süden, wäre die ukrainische Staatsführung innert Tagen ausgeschaltet worden.
- Wären Russland tiefe Vorstösse aus dem Süden und Norden richtig Dnjepr gelungen, hätten die um den Donbass konzentrierten ukrainischen Truppen auf verlorenen Posten gestanden. Ohne sie wäre eine Verteidigung der restlichen Ukraine wirklich aussichtslos gewesen.
Am 18. Februar warnte US-Präsident Joe Biden öffentlich vor einem russischen Angriff in den nächsten Tagen – und zählte die ukrainische Hauptstadt als erstes anzunehmendes Angriffsziel auf. Die ukrainische Regierung und Armeeführung schulden den wenigen Verteidigern von Kiev grossen Dank – und der Öffentlichkeit spätestens nach Kriegsende ehrliche Antworten.
Weitere Kommentare von Dr. Fritz Kälin:
- Keine Armee ist besser als ihre Munitionsvorräte
- Hochwasser sind ein wertvoller Lackmustest für die nationale Führungskultur
- Ukrainische Armeereformpläne vor Kriegsausbruch
- Europa muss anfangen, das Ende des russischen Krieges in der Ukraine zu fürchten
- Die aktuelle russisch-ukrainische Krise im Spiegel der finnischen Kriegserfahrungen 1939-1944
- Rückblick 2021 der sicherheitspolitischen Kolumne auf Moneycab
- Als die Milizarmee im Reduit die Bedrohungen für das 21. Jahrhundert richtig antizipierte
- Die Schweiz möchte sich an PESCO (Permanent Structured Cooperation) der EU beteiligen
- Die Kampfjettypenwahl des Bundesrates: Mehr als ein Jahrzehnt mehr Leistung
- Bilanzen westlicher und russischer Kriegsführung: Ein beklemmender Vergleich und ein möglicher westlicher Sieg in Afghanistan
- Streitkräfte als strategische Reserve in Zeiten eines sicherheitspolitischen Gezeitenwechsels
- Der neueste Sicherheitspolitische Bericht von 2021 gemessen am ersten Bericht von 1973
- Säbelrasseln in Europa und Asien
- Nach Corona müssen wir wieder lernen, Essentielles von Wünschbarem zu unterscheiden
- Wie die «Friedensdividende» die klassische Landesverteidigung schwächte und ob sich das gelohnt hat
- Was Kampfpanzerzahlen über den «Brexit» und Europas Bedeutungsverlust aussagen können
- Ökosystem Sicherheitspolitik