Brüssel/London – Zitterpartie bis zum Schluss: Mit einem letzten Kraftakt haben die Europäische Union und Grossbritannien zu Wochenbeginn versucht, doch noch einen Handelspakt für die Zeit ab dem 1. Januar zustande zu bringen. In Brüssel bewerteten EU-Unterhändler Michel Barnier, Diplomaten und Abgeordnete die Aussichten für eine Einigung am Montag düster. Doch noch war keine Seite bereit, die Verantwortung für ein Scheitern zu übernehmen.
So sagte Barnier nach Angaben von Teilnehmern bei einer Unterrichtung für Europaabgeordnete, es könnte noch bis Mittwoch verhandelt werden – also bis unmittelbar vor dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag. Auch die britische Regierung erklärte, die Zeit sei zwar knapp, aber solange noch welche bleibe, sei man bereit, weiter zu verhandeln. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Premier Boris Johnson wollten bei einem Telefonat am Montagabend beraten, wie es weitergeht.
Enormer Zeitdruck
Keine vier Wochen vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase stehen die Unterhändler enorm unter Zeitdruck. Ohne Handelsabkommen drohen zum Jahreswechsel Zölle und andere Handelshürden zwischen beiden Seiten, die bisher im gemeinsamen Binnenmarkt engstens verflochten sind und Waren im Wert von mehreren Hundert Milliarden Euro pro Jahr hin und her liefern. Scheitern die Verhandlungen, würden viele britische Waren in der EU teurer. Verzögerungen an der Grenze könnten zu Engpässen führen und Lieferketten unterbrechen. Zehntausende Jobs wären in Gefahr. In Grossbritannien sorgt man sich vor allem um Knappheiten bei Benzin und bestimmten Lebensmitteln.
Kaum Fortschritte bei Knackpunkten
Die Unterhändler streiten seit Monaten über immer dieselben Punkte: Fischerei, faire Wettbewerbsbedingungen und Regeln zur Ahndung von Verstössen gegen das Abkommen. Bei diesen Knackpunkten sei man auch in der jüngsten Verhandlungsrunde seit Sonntag kaum vorangekommen, berichtete Barnier am Montagfrüh den EU-Botschaftern und den Brexit-Spezialisten im Europaparlament. Barniers Auftritt sei düster, niedergeschlagen und pessimistisch gewesen, sagte ein EU-Diplomat. Auch der irische Aussenminister Simon Coveney äusserte sich in einem Fernsehinterview wenig zuversichtlich.
Wer blinzelt zuerst?
Doch keine Seite will offenbar als erste aufgeben – und die Misere eines No-Deal-Brexits verantworten. «Der Ausgang ist immer noch offen», sagte ein anderer EU-Diplomat. «Die EU ist bereit, letzte Anstrengungen aufzubringen, um einen fairen, nachhaltigen und ausgewogenen Deal für die Bürger in der EU und dem Vereinigten Königreich zu erzielen. Es ist jetzt an Grossbritannien, zwischen einem solchen positiven Ergebnis und einem No-Deal zu wählen.»
Barnier und sein britischer Kollege David Frost prüfen seit Monaten zentimeterweise sogenannte Landezonen, so dass nun kaum noch eine Überraschungslösung kommen dürfte, an die noch niemand gedacht hat. Entscheidend dürfte sein, ob sich beide Seiten politisch einen Ruck geben. Und das wiederum hängt von dem Kalkül ab, ob ein schwacher, überstürzter oder verquerer Vertrag womöglich langfristig mehr Nachteile bringt als ein No-Deal.
London will sich keine Vorgaben machen lassen
Die EU hat Grossbritannien freien Warenhandel ohne Zölle und Mengenbegrenzungen angeboten. Dafür fordert sie aber gleiche Umwelt- oder Sozialstandards und Subventionsregeln. Das verbirgt sich hinter dem Punkt faire Wettbewerbsbedingungen – im Verhandlungsjargon «Level Playing Field». Das Problem: Grossbritannien möchte sich von der EU möglichst wenige Vorgaben machen lassen – «Souveränität» und «Kontrolle» über die eigenen Regeln ist aus Londoner Sicht ja der Hauptzweck des Brexits. Die EU will hingegen keine Öffnung ihres Markts für Unternehmen, die geringere Standards einhalten müssen und deshalb billiger produzieren können. Der Schutz des EU-Binnenmarkts sei für alle 27 Staaten oberste Priorität, heisst es in Brüssel.
Streitpunkt Fischerei
Das zweite Streitthema Fischerei ist vor allem für Küstenstaaten wichtig, allen voran Frankreich. Die Unterhändler feilschen um die Mengen, die EU-Fischer in britischen Gewässern fangen dürfen. Im Gespräch sind Quoten und eine Klausel zur Überprüfung der Regelung nach einer bestimmten Frist – eine sogenannte Revisionsklausel. Einen angeblichen Durchbruch beim Fisch dementierten beide Seiten.
Einlenken beim Binnenmarktgesetz?
Beim dritten Punkt, dem umstrittenen «Binnenmarktgesetz», hat die Regierung in London am Abend ein Einlenken angedeutet. Mehrere Klauseln darin hatten zu grosser Empörung in Brüssel geführt, weil dadurch Teile des im vergangenen Herbst vereinbarten EU-Austrittsabkommens im Hinblick auf die schwierige Nordirland-Frage ausgehebelt werden könnten. Die britische Regierung hatte zugegeben, dass es sich dabei um einen Bruch internationalen Rechts handeln würde, hatte das Gesetz aber als gleichzeitig «legales Sicherheitsnetz» verteidigt.
Nun teilte die britische Regierung mit, sie sei dazu bereit, umstrittenen Klauseln des Gesetzentwurfs zu entfernen oder zu entschärfen. Voraussetzung sei eine Einigung in dem gemeinsamen Komitee, das für die Umsetzung der Nordirland-Bestimmungen des Austrittsvertrags zuständig ist. «Die Gespräche dauern an und abschliessende Entscheidungen werden in den kommenden Tagen erwartet», hiess es in der Mitteilung der Regierung. (awp/mc/pg)