Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie holt gerade diejenigen rasch ein, die sie ignorieren wollen. Der aktuelle russische Truppenaufmarsch um die Ukraine sorgt für mehr als nur historisches Interesse an den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts.
Von Dr. Fritz Kälin
Ein besonders gut informierter Zeitzeuge war Max Jakobson (1923–2013), von 1965–1972 finnischer Botschafter bei den Vereinten Nationen. Er war Journalist, Veteran des finnisch-sowjetischen Fortsetzungskrieg 1941–1944, und als Berater mehrerer finnischer Ministerpräsidenten einer der prägenden aussenpolitischen Denker seines Landes. Vor einigen Jahren las ich sein 1969 erschienenes Buch Finnlands Neutralitätspolitik zwischen Ost und West. Viele von Jakobsons Textpassagen haben angesichts des aktuellen russischen Powerplays gegenüber der Ukraine nicht nur historische Aussagekraft.
Weshalb Finnland sich 1939/1940 bewusst alleine gegen Stalins Invasion verteidigte
Jakobson fasste die finnische Überlebensstrategie im sowjetisch-finnischen Winterkrieg vom 30. November 1939 bis zum 13. März 1940 wie folgt zusammen:
Sogar im Winter 1940, im Augenblick der grössten Gefahr, hatten die Finnen die sowjetischen Friedensbedingungen trotz aller Härte der Alternative vorgezogen, sich auf englisch-französische Hilfe zu verlassen, womit man gleichzeitig das Schicksal Finnlands in die Hände der Westmächte gelegt hätte.
Fremde Truppenkontingente hätten das Kräfteverhältnis nicht zu Finnlands Gunsten kippen können, aber Helsinki hätte nicht mehr alleine darüber entscheiden können, wie lange es den Kampf fortsetzen will.
Die Sicherheitslogik des Kremls kann zugleich folgerichtig und kontraproduktiv sein
Weshalb griff aus Sicht des finnischen Diplomaten die Sowjetunion Finnland überhaupt an?
Stalins ausdrückliches Ziel war es, sein Land aus dem Krieg zwischen Deutschland und dem Westen herauszuhalten. Die sowjetische Führung hatte die obsessive Befürchtung, dass Finnland sich im Falle eines Krieges Deutschland anschliessen könnte. Wenn es aber ihr Ziel war, etwas Derartiges zu vermeiden, so wirkte sich ihre Politik gerade dahingehend aus, dass Tendenzen, die unterdrückt werden sollten, lediglich gestärkt wurden.
Auf Stalins übergeordnetes Ziel kommen wir ganz am Ende dieser Kolumne zurück. Seine Befürchtung bewahrheitete sich jedenfalls. Deutschland verlegte 1940 in Verletzung des deutsch-sowjetischen Paktes von 1939 Truppen nach Finnland. Am 22. Juni 1941 startete Hitler seinen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, in dessen Windschatten Finnland versuchte, sein 1940 an die Rote Armee verlorenes Territorium zurückzuerobern. Mit viel Glück und grossen Opfern an Menschen und Staatsterritorium konnte Finnland seine Unabhängigkeit über das Kriegsende hinaus bewahren.
Auch die gegenwärtige russische Druckpolitik gegen eine erneute NATO-Osterweiterung erzeugt kontraproduktive Reaktionen. Die Ukraine und Georgien wurden gewissermassen Opfer der ihnen 2007 eröffneten NATO-Beitrittsperspektive. Finnland und Schweden signalisieren deshalb, dass sie der Allianz im Zweifelsfall eher zu früh als zu spät beitreten würden.
Neutralität kann man nicht deklarieren, sondern man muss sie glaubwürdig leben
Die Aktivdienstgeneration in der Schweiz hatte am Schicksal Finnlands starken Anteil genommen. In den Folgejahrzehnten prägte die Kernerkenntnis der finnischen Erfahrung das strategische Denken hierzulande mit. Beispielsweise, dass der Wert von Neutralität sich an ihrer Interpretation durch einen potentiellen Gegner misst. Dieser erwartet vom Neutralen eine Mindestdistanzierung von Drittmächten:
Aber Neutralität hatte Finnland 1939 nicht vor dem Krieg bewahrt, einfach deswegen, weil die sowjetische Führung nicht an Finnlands Fähigkeit oder auch nur seinen Willen, neutral zu bleiben, geglaubt hatte.
Seit 2014 hat Russland alles getan, um in der Ukraine eine russlandfeindliche Haltung zu erzeugen. Darum dürfte es einer allfälligen ukrainischen Neutralität auf absehbare Zeit misstrauen. Eine auf den ersten Blick naheliegende ‹Finnlandisierung› der Ukraine könnte sich so als nicht tragfähiger Ausweg aus der aktuellen Krise erweisen.
Finnland (und die Schweiz) behielten die westalliierten Siegermächte nach Kriegsende nicht nur als moralisch vollkommene Befreier in Erinnerung:
Das Ergebnis [der Friedensverhandlungen 1945] vertiefte die Desillusionierung der finnischen Öffentlichkeit gegenüber der westlichen Politik und bestätigte jene Lehren, welche die finnische Führungsschicht aus den Erfahrungen des zweiten Weltkriegs abgeleitet hatte. Vor dem Krieg wurde Finnland als Vorposten des Westens gegenüber dem russischen Kommunismus gefeiert. Als der Vorposten 1939 angegriffen wurde, hatte die übrige Welt den Verteidiger ermuntert und ihm applaudiert, aber kein Volk war ihm zu Hilfe geeilt. Diese Erfahrung wirkte sich tief und dauernd auf das politische Denken in Finnland aus.
Jakobson schlussfolgerte, dass es der Sowjetunion 1939 weniger um Finnland selbst ging, sondern darum, seinem eigentlichen Angstgegner Deutschland einen möglichen Aufmarschraum vorzuenthalten. Im Kalten Krieg schickte sich Finnland deshalb in seine ihm von Moskau zugedachte Rolle, als neutraler Puffer für die Metropole Leningrad und den Hafen Murmansk zu dienen.
Wir hoffen alle, dass die Diplomatie die aktuelle Krise in Osteuropa friedlich und nicht auf Kosten der Souveränität ganzer Völker zu entspannen vermag. Jakobsons Buch enthält auch hierzu eine zitierwürdige Passage, welche zugleich alle in dieser Kolumne vermittelten Erkenntnisse relativiert:
Generale, sagt man, machen oft Pläne, um den jüngst vergangenen Krieg zu gewinnen, Staatsmänner versuchen oft nachträglich, ihn zu vermeiden, anstatt künftigen Konflikten vorzubauen.
Was, wenn der Kreml heute fest mit einem Krieg zwischen China und dem Westen rechnet? Will Putin wie Stalin vor 1939 gegen Westen vorsorglich eine Pufferzone schaffen, damit sein Land in einer sichereren Ausgangsposition ist? Solche Sicherheitsinteressen verfolgt Russland nicht nur auf dem Verhandlungsweg.
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