Die beste Schätzung der Wirklichkeit
Von Angelika Jacobs, Universität Basel
Das Hirn versucht, sich einen Reim auf die Welt zu machen. Was passiert, wenn es dabei immer weiter von der Wahrheit abweicht?
Wir tragen eine Zeitmaschine in unserem Kopf. Unbewusst, aber fortlaufend schaut unser Gehirn ein kleines Stück in die Zukunft: Wenn unserem Gegenüber ein Buch herunterfällt, wissen wir: Gleich hören wir den Aufprall. Das Gehirn produziert solche Erwartungen, weil es sich – basierend auf unseren Erfahrungen – ein inneres Modell von der Welt und unserer Position darin baut. Neue Eindrücke, die das Hirn erreichen, treffen auf diese Erwartungen und erzeugen zusammengenommen unser Bild der Wirklichkeit.
So praktisch diese Vorhersagen sind: Was wir als Realität verstehen, ist im Grunde nur die beste Schätzung, die unser Gehirn über die Welt abgeben kann. Dabei flunkert es an vielen Stellen. Es füllt etwa den blinden Fleck unserer Netzhaut, sodass wir kein Loch in unserem Blickfeld sehen. Und es stellt kausale Zusammenhänge her, die aufgrund unseres inneren Weltbilds am wahrscheinlichsten scheinen.
Update nötig?
Fachleute nennen diese Arbeitsmethode des Hirns «Predictive Processing», also «vorhersagende Verarbeitung». Die Elemente, die es dafür braucht, lassen sich zumindest theoretisch beschreiben: Zunächst muss das Gehirn eintreffende Sinneseindrücke mit dem inneren Modell der Welt abgleichen. Passen die Sinnesreize nicht zu den Erwartungen, macht das fallende Buch beispielsweise ein viel leiseres Geräusch als gedacht, war eventuell die Vorhersage falsch. Solche Vorhersagefehler muss das Hirn anschliessend gewichten, um zu entscheiden, ob das Weltmodell ein Update braucht oder nicht.
Welche Hirnstrukturen dafür verantwortlich sind, versuchen Forschende um den Neurowissenschaftler Georg Keller vom Friedrich Miescher Institut und der Universität Basel zu ergründen. Wenn es gelingt, die entsprechenden Nervenzellgruppen zu identifizieren, wäre nicht nur die Hirnforschung ein grosses Stück weiter: Diese Zellgruppen wären greifbare Ansatzpunkte für neue Therapien, um Wahnvorstellungen und Halluzinationen zu behandeln.
Genau dieses Ziel verfolgt auch Philipp Sterzer. Der Neurowissenschaftler und Professor für Psychiatrie an der Universität und den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel erforscht die Mechanismen hinter Psychosen und befasst sich dabei ebenfalls mit dem Predictive Processing. Die Theorie: Wenn das Gehirn seine Vorhersagefehler falsch gewichtet, aktualisiert es womöglich unnötig das innere Weltbild oder versäumt es, dieses da zu korrigieren, wo es nötig wäre. Die Vorhersagen können so immer weiter von dem wegdriften, was gesunde Personen als Wirklichkeit verstehen. Während das gesunde Gehirn also ein bisschen flunkert – mit bester Absicht, wie beim Füllen des blinden Flecks –, kann ein Gehirn im Zuge einer akuten Psychose Eindrücke oder kausale Zusammenhänge erzeugen, wo keine sind.
In einem gemeinsamen Projekt wollen Georg Keller und Philipp Sterzer die Schaltkreise hinter dem Predictive Processing besser verstehen: Sie suchen das Bild der Welt im Gehirn. Der wahrscheinlichste Ort dafür ist die Hirnrinde (Cortex) – jener Teil des Gehirns, dem höhere Denkfunktionen zugeordnet werden. Aber auch die Hirnrinde ist kein homogenes Gebilde, sondern gleicht eher einem Gebäudekomplex mit unterschiedlichen Stockwerken und Abteilungen. Um herauszufinden, welche davon für Abgleich, Gewichtung und Weltbild zuständig sind, untersuchen die Forschenden diesen Komplex im Mäusegehirn.
Die Heimat des inneren Weltmodells
Georg Kellers Team und andere Forschungsgruppen haben durch Versuche mit Mäusen Hinweise gefunden, dass die näher am Schädel gelegenen Stockwerke – die Schichten 2 und 3 des Cortex – wahrscheinlich den Abgleich der Sinnesreize mit dem inneren Modell der Welt übernehmen und den Vorhersagefehler berechnen. Vermutlich findet das mehrfach in verschiedenen «Abteilungen» verteilt über den Cortex statt, je nachdem, um welche Sinnesreize es geht.
Wie genau die Vorhersagefehler anschliessend gewichtet werden, ist unklar. Aber zumindest für den Sitz des inneren Weltmodells gibt es einen heissen Kandidaten. Auf dessen Spur sind die Forschenden um Keller aufgrund der Wirkung von Antipsychotika im Mäusegehirn gekommen. Genauer gesagt stellte sich heraus, dass die Medikamente vor allem auf Nervenzellen der Schicht 5 des Cortex wirken, also Zellen eines tiefer gelegenen Stockwerks der Hirnrinde.
«Verschiedene Antipsychotika gegen Wahnvorstellungen und Halluzinationen zeigen alle den gleichen Effekt: Sie reduzieren den Einfluss, den die Nervenzellen der Schicht 5 aufeinander haben», erklärt Georg Keller. Diese sogenannte Dekorrelation scheine zu helfen. Wie genau, ist noch Gegenstand der Forschung.
Ein weiteres Indiz, das für Schicht-5-Nervenzellen als Heimat des inneren Weltmodells spricht: Diese Neuronen stellen Verbindungen zwischen weiter entfernten Bereichen des Gehirns her. Solche Fernleitungen sind eine Voraussetzung, um Vorhersagen an jene Bereiche des Cortex zu übermitteln, wo verschiedene Sinneseindrücke verarbeitet werden.
Von der Maus zum Menschen
Erhärtet sich die Vermutung, dass diese Nervenzellen das Modell der Welt speichern, läge hier auch ein Ansatzpunkt für neue und gezieltere Wirkstoffe gegen Schizophrenie. Zunächst müssen Sterzer und Keller jedoch herausfinden, inwiefern sich die Befunde aus Mäusen auf den Menschen übertragen lassen. Hierfür möchte Sterzer mit seinem Team bildgebende Verfahren wie funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI) und Hirnstrommessungen (EEG) einsetzen, um die Aktivität und Rolle der Schicht-5-Neuronen beim Menschen genauer zu erforschen. Die Hoffnung: Je genauer wir verstehen, wie sich das Gehirn einen Reim auf die Welt macht, umso besser kann man das innere Weltmodell wieder ins Lot bringen. (Universität Basel/mc/ps)
Philipp Sterzer ist seit 2022 Professor für Translationale Psychiatrie und Chefarzt an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.
Georg Keller ist Forschungsgruppenleiter mit Fokus Neurobiologie am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research.
Weitere Artikel in dieser Ausgabe von UNI NOVA (Mai 2024).
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