Mein Vater war ein krasser Typ – wie ihr, liebe Komfort-Zonen-Influencer oder YouTube-Schwachmaten sagen würdet. Krass war früher, sage ich Euch, heute überwiegt Woke, Fake oder Show. Er hat nicht im Wohnzimmer gedreht, die Kulisse optimiert oder auf sein Makeup geachtet. Dafür hat er aber etwas Reales und nicht etwa Inszeniertes erlebt.
von Martin Neff, ehemaliger Chefökonom Raiffeisen
Seiner Jugend beraubt, Kriegsteilnehmer an West- und Ostfront für die verdammten Nazis, Kriegsgefangener in Karaganda im heutigen Kasachstan, wo er Zwangsarbeit in einer Mine leisten musste, gedemütigt wurde und nie wusste, ob er am nächsten Tag noch leben oder in Ungnade bei den unbarmherzigen Wärtern fallen würde, unterernährt. Und dabei war er im Grunde – Entschuldigung für den Ausdruck – nur eine arme Sau, ein einfacher Soldat, der an der Front von all dem, was im Dritten Reich so dermassen schieflief, faktisch nichts wusste. Meine drei Geschwister und ich haben ihn immer und immer und immer wieder bedrängt, über damals auszupacken, aber er hatte nichts zu erzählen ausser vom Leben an der Front und von der russischen Gefangenschaft.
Ich/wir haben ihm geglaubt und hätte es damals schon digitale Kommunikationskanäle gegeben, hätte er wahrscheinlich mit seiner einfachen Darstellung dessen, was ihm jeden Tag widerfuhr, mehr Follower hinter sich geschart als der Hamster meiner Nachbarn, Andrew Tate, oder die neuen Klamotten oder Marotten der Kardashians.
Ich weiss, dass es meinen Vater, wie so vielen anderen, denen es ähnlich erging, Jahre kostete, das alles einigermassen zu verarbeiten, weiss aber nicht, ob es ihm tatsächlich vollständig gelang. Aber sei’s drum, 1949 nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft, musste das Leben weitergehen und das Wirtschaftswunder entfacht werden. Stetige Wegbegleiter meiner Jugend waren 1. «Nie wieder» und 2. «Dir soll es mal besser gehen». Und ob es mir besser ging! Ich war gerade zwei Jahre alt, und schon fuhren wir erstmals ans Mittelmeer, nach St. Raphael an der Côte d’Azur – damals noch für Normalbürger erschwinglich – zum Campen, mit bescheidenem Zelt und VW Käfer, zu sechst notabene, aber Hammerferien. Und jedes Jahr danach dasselbe Spiel. Mal Toskana, mal Veneto, mal Provence, Hauptsache Meer, ein Sehnsuchtsort für die ganze Familie.
Meist verbrachten wir drei Wochen dort, die Reise dauerte zwar eine gefühlte Ewigkeit, das jeweilige Ziel war das aber allemal wert. Für Papa begann der Urlaub, wenn der letzte gerade zu Ende gegangen war. Kaum zurück, schmiedete er Pläne, wohin es im kommenden Jahr gehen sollte und verarbeitete nebenbei den letzten Urlaub. Mit Diapositiven, jedes einzelne mit doppelten Gläschen gerahmt, geklebt und dann beschriftet: «Fiesole, Juli 1967», «Assisi, August 1967», «Martin mit Nino, Camping Etruria, August 1971» und so weiter. Nächtelang war er damit beschäftigt und es tat ihm gut und auch uns, denn die Diaabende waren harmonisch, auch wenn mein Vater manchmal allzu sehr in historisch-kulturelle Vorlesungen ausschweifte. Heute macht mein Handy das mit links und büschelt alles nett zusammen. Tiere, Orte, Jahreszeiten, beliebig kann ich vorgeben, nach welchen Kriterien ich die Trilliarden Pixel sortieren möchte. Und habe ich keine diesbezügliche Idee, kriege ich ungefragt entsprechende Vorschläge. KI ist halt schon eine Riesenerleichterung. Aber ist es auch Wertschöpfung? Wo bleibt da der individuelle Spassfaktor der akribischen Erinnerungsaufbereitung?
Die Vorbereitungen für den nächsten Urlaub verliefen ähnlich akribisch wie die Verarbeitung des letzten. Die Reiseroute: schriftlich in Etappen – Zeit und Distanz – zerlegt, Pinkelpausen sauber eingeflochten, Sehenswürdigkeiten auf der Strecke im Fahrplan berücksichtigt und bis ins Detail durchgetaktet. Was vermeintlich an die einst vielgelobte deutsche und übrigens auch eidgenössische Gründlichkeit erinnert, war im Grunde nichts anderes als pure Vorfreude. All das ist meinen Kindern fremd. Google Maps und KI übernehmen heute diesen Job und sie machen’s zweifellos noch besser, aber sie nehmen uns nicht nur viel Aufwand ab, sondern auch viel Freude. Es ist alles zu einfach, zu durchsichtig und so entfallen die herrliche Improvisation, die Unberechenbarkeit und die Fantasie, was einen erwartet. Würde das monetär quantifiziert, das behaupte ich jetzt mal ganz frech, wäre der Nettonutzen all dieser noch so tollen Instrumente negativ. Denn was ich an Zeit spare, spare ich auch an Freude und Freude ist fast unbezahlbar und schon gar nicht monetär schätzbar. Also Wertvernichtung und nicht -schöpfung.
Noch besser als der ganze digitale Support ist aber, dass ich heute die einmalige Chance habe, meine Wünsche zu definieren und ihre möglichst optimale Erfüllung auszusourcen, mich zielgerecht beraten zu lassen. Von einem Consultant! Und so lande ich dann nicht in der Toskana, sondern an der Nordsee oder dem Atlantik, weil’s dort auch Sandstrand hat und die mediterrane Küche auch nicht mehr ist, was sie mal war. Ausserdem empfiehlt der Fitnesscoach, lange Läufe an einem weitläufigen Strand, was in Italien auf Grund der Enge fast nicht mehr möglich ist, es sei denn man zahlt in jedem Strandabschnitt überall Eintritt. Die Strecke dorthin wird ebenso vorgegeben wie die «Musts» unterwegs, weil die in der Influencer-Szene gerade obenauf schwingen. Ich muss gar nix mehr recherchieren/entdecken, sondern nur noch das Programm abgreifen, was mir kostenpflichtig auf den Leib geschnitten wurde.
Das Beratungsbusiness ist ein übles Geschäft, aber es boomt wie blöd. Es nimmt Dir die Freude oder die Verantwortung, ohne dass Du es merkst, und es empfiehlt Dir Dinge, die Du weder willst noch brauchst. Und Du zahlst auch noch dafür. Es entscheidet für Dich und weiss, was am besten für Dich ist, ob Du nun Individualreisender oder Chef eines multinationalen Konzerns bist. Liebe Berater, ich meine es wirklich nicht böse, aber Euch braucht es am wenigsten, genauso wenig wie Influencer oder YouTuber.
Bevor ihr auf der Bildfläche erschienen seid, war die Welt eigentlich schon in Ordnung, Mangel schwand dank ökonomischer Prosperität und der Wohlstand wuchs. Dann fingt ihr an, einen Teil dieses Wohlstands abzuschneiden und für Euch zu beanspruchen. Mal hiess es Nordsee, mal Karibik, mal Konzentration auf das Kerngeschäft, mal Diversifikation. Alles, was ihr verdient habt und heute noch verdient, wurde bereits von anderen erwirtschaftet. Das ist Wertabschöpfung und nicht Wertschöpfung. Ihr zwackt nur jeweils einen Teil dessen ab, was andere schon erwirtschaftet haben. Natürlich hat in einer Marktwirtschaft alles einen Wert, für das etwas bezahlt wird und wenn ich einen Fitness-, Reise-, Lifestyle-, Stress- oder Modecoach mit meinen Lohnprozenten füttere, ist das letztlich das freie Spiel der Marktkräfte. Und der Unternehmensberater oder Entwickler (!), der mir – für teures Geld – sagt, wie viele Jobs ich abbauen soll oder wie ich meine Kunden noch besser segmentieren kann, und dies wiederholt, mal vorwärts und mal rückwärts, ist sein Geld natürlich allemal wert, denn er sagt mir nicht nur, was ich denken soll, sondern denkt auch gleich voraus, was ich sagen soll und/oder entwickelt dies sogar. Ein einzigartiges Erfolgsmodell.
Vervierfachung der Umsätze in rund 20 Jahren, da können maximal noch ein paar Tech-Firmen mithalten. Betriebswirtschaftliche Bilanz von daher Weltklasse, volkswirtschaftliche Wertschöpfung hingegen nahe null, denn jeder Franken, den die Branche absahnt, muss erst mal wo verdient werden. Wir haben das Problem – auch hierzulande – dass Branchen lukrativ und hochprofessionell sind, obwohl ihr volkswirtschaftlicher Nutzen – sagen wir’s mal so – anzuzweifeln ist. Man kann eine Volkswirtschaft in der Tat auch zu Tode umstrukturieren, verwalten oder beraten. Nicht, solange die wächst, da lässt sich jeweils ein nettes Scheibchen abschneiden, aber ab dem Moment, an dem das Wachstum nicht (mehr) vom Himmel fällt, schon.
Dann ist Beratung nix mehr wert, wetten wir? Doch nun muss ich mich meinen Reiseplänen zuwenden, aufwendig zwar, aber mit umso mehr Vorfreude. Ich bin dann mal weg, liebe Leser! Und bitte lassen Sie sich nicht beraten, sondern lesen Sie nur den Beipackzettel.
Diese Kolumne wird weiterleben und Fredy Hasenmaile, mein geschätzter Nachfolger bei Raiffeisen, wird Sie in Zukunft mit seiner Sicht der Dinge unterhalten und sicher auch das eine oder andere Mal zum Schmunzeln oder Nachdenken bringen. Dafür braucht er sicher keine Beratung, auch nicht von mir.
Herzlichen Dank für Ihre Treue und Ihre stets willkommenen Anregungen, aber auch Kritiken. Alles Gute!